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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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hatten, als wir in der vorigen Simulation an die Grenze gekommen waren. Ich hörte, wie die Millionen Stimmen langsam immer weniger wirr durcheinandergingen, indem sie jede für sich ihre Lautstärke erhöhten oder senkten und entweder ihr Geplapper verlangsamten oder ihr zögerndes Stottern beschleunigten. So bizarr und fesselnd war dieser Vorgang, daß ich meine vier Gefährten fast völlig vergaß – sie wurden ferne Wolken am Horizont meiner Aufmerksamkeit.
    Die Stimmen fuhren fort, ihre individuellen Merkmale abzustreifen. Schreie wurden gedämpft. Leises Gemurmel wurde voller und lauter. Es geschah sehr rasch, aber es war so komplex und faszinierend, als wohnte man der Erschaffung einer ganzen Welt bei. Ich nahm es geradezu ganzkörperlich wahr, nicht allein mit dem Gehörsinn, erkannte, wie die Spitzen und Wirbel der gegensätzlichen Informationen allmählich eine gemeinsame Schwingung entwickelten. Ich schmeckte die wachsende Kohärenz, roch sie … fühlte sie. Das babylonische Gewirr löste sich schließlich in einen einzelnen wortlosen Ton auf, in den leisesten Ton, konnte man meinen, den man auf der größten Orgelpfeife des Universums spielen konnte. Dann hörte er auf. Eine ganze Weile dröhnten und wisperten noch die Echos in den entlegensten Winkeln des Höhlenraumes, nachhallende Wellen, die wie Feuerwerksraketen in den abzweigenden Gängen auszischten. Dann die Stille. Und aus der Stille schließlich eine Stimme. Alle Stimmen. Eine einzige Stimme.
    ›Wir sind die Verlorenen. Weshalb seid ihr gekommen?‹
    Florimel, William – keiner meiner Begleiter sagte ein Wort. Schlaff und reglos wie Vogelscheuchen hingen sie neben mir in der Dunkelheit. Ich machte den Mund auf, aber brachte keinen Laut heraus. Ich sagte mir, nichts davon sei wirklich, aber konnte meiner eigenen Behauptung nicht glauben. Die Wesen, die die Höhle ausfüllten, warteten auf eine Antwort, und dabei ging von ihnen ein ähnliches Schweigen aus wie von einem Stock Bienen kurz vor Sonnenaufgang – eine Million Individuen, die alle derart auf diesen Moment gepolt sind, daß sie praktisch ein einziges Wesen bilden.
    Ich fand zuletzt meine Stimme – zwar so stotternd, daß ich sie kaum als meine eigene erkannte, aber ich formte immerhin Worte. ›Das Volk der mittleren Lüfte hat uns dazu verurteilt …‹, begann ich.
    ›Ihr seid über den Schwarzen Ozean gekommen‹, sang die Stimme der Verlorenen. ›Ihr seid nicht von hier. Wir kennen euch.‹
    ›Ihr k-kennt uns?‹ würgte ich hervor.
    ›Ihr habt Andere Namen‹, sagten die Verlorenen. ›Solche Namen besitzen nur Leute, die den Ozean überquert haben.‹
    ›Wollt ihr… wollt ihr damit sagen, ihr wißt, wer wir … wirklich sind?‹ Es war mir immer noch fast unmöglich zu sprechen. An einer kleinen, scharfen Bewegung dicht neben mir fühlte ich mehr, als ich hörte, daß einer meiner fassungslosen Gefährten wimmerte, wie mir schien, oder mir etwas mitteilen wollte, aber ich konnte nicht darauf achten. Ich war wie betäubt – ein anderes Wort fällt mir nicht ein – von der Gewalt der Stimme der Verlorenen, so wehrlos ausgeliefert wie ein Mensch, der vor einem spielenden Symphonieorchester steht und sich an eine andere Melodie zu erinnern versucht.
    ›Ihr habt … Andere Namen‹, sagten die Verlorenen, als hätten sie es mit Leuten zu tun, die schwer von Begriff sind. ›Du bist Martine Desroubins. Das ist einer deiner Andern Namen. Du kommst von einem Ort namens LE0S/433/2GA/50996-L0C-NIL, vom andern Ufer des Schwarzen Ozeans. Deine Nummer für den Notfall ist …‹
    Während die Bienenstockstimme mit einer Feierlichkeit, als verkündete Gott dem Mose die zehn Gebote, weiter die Nummer meines Büros in Toulouse und die Nummer der Firma aufsagte, die den randomisierenden Sat-Router betrieb, über den Singh und ich uns unaufspürbar ins Otherlandnetzwerk eingeschleust hatten, stellte sich mir einen Augenblick lang die ganze Welt auf den Kopf. Waren die ganzen Schrecken, die wir in den vergangenen Wochen durchgemacht hatten, nur die Kulisse für einen grotesken Scherz gewesen, fragte ich mich, waren wir alle diesen langen, schweren Weg nur deswegen geführt worden, um am Schluß eine lahme, wenn auch erstaunliche Pointe vorgesetzt zu bekommen? Dann begriff ich, daß die Verlorenen, wer oder was sie auch sein mochten, schlicht und einfach meine eingehenden Daten lasen. Die Welt stellte sich wieder auf die Füße, jedenfalls so weit das unter derart verrückten Umständen

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