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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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klar, daß ich Mitgefühl mit fiktiven Gestalten hatte. Die Wirklichkeit dieser Unwirklichkeit hatte mich besiegt.
    Während ich noch diesen wirren Gedanken nachhing, merkte ich, daß die uns mit ihren Wehklagen umringende wesenlose Schar angefangen hatte, uns aus dem zentralen Raum wegzumanövrieren. Die hauchzarten Berührungen, die flüsternden Stimmen drängten und lenkten uns. Ich allein konnte unsere Umgebung wahrnehmen und erkannte, daß die Räume, durch die sie uns führten, groß genug waren, daß wir sie unverletzt passieren konnten, und daher ließ ich es geschehen. Die anderen waren weitaus desorientierter als ich und merkten nicht einmal, daß sie sich immer weiter von der Stelle wegbewegten, wo wir in die Stätte der Verlorenen geworfen worden waren.
    Florimel schwebte näher an mich heran und fragte mich über das Stimmengesäusel hinweg: ›Meinst du, daß dies die Kinder sind, die wir suchen? Die verlorenen Kinder?‹
    Obwohl mein Gehirn nach dem Faustschlag von T4b immer noch langsam arbeitete, kam ich mir in dem Moment wie der größte Idiot der Welt vor. Bis zu dieser Frage hatte ich gar nicht darüber nachgedacht, was seinen Ausbruch ausgelöst haben mochte. Hatte sie recht? Konnte dies ein Ort sein, wo die im Koma liegenden Opfer der Bruderschaft ein virtuelles Dasein führten? Waren die zwitschernden Gespenster um uns herum mehr als bloß ein gekonnter Effekt in einer magischen Simwelt? Wenn ja, begriff ich, dann waren wir in der Tat von Geistern umringt – von den ruhelosen Seelen der So-gut-wie-Toten.
    Meine letzten Selbstschutzmechanismen brachen zusammen, und ich merkte, wie ich eiskalt wurde. Wenn nun einer davon Renies Bruder Stephen war? Wieviel grauenhafter das für ihn wäre als der traumlose Schlaf des Komas! Ich versuchte ein solches Dasein nachzuempfinden – wenig mehr zu sein als eine notdürftig zusammenhängende und verloren umherirrende Datenwolke –, mir vorzustellen, wie einem kleinen Jungen zumute sein mochte, der darum kämpfte, das Wissen um seine Individualität festzuhalten und in der endlosen, chaotischen Dunkelheit nicht den Verstand zu verlieren, obwohl das Restbewußtsein von seinem wahren Ich sich jeden Moment aufzulösen und zu vergehen drohte wie ein im Ozean schwimmender Eiswürfel.
    Tränen traten mir in die Augen. Ich ballte vor Wut meine Fäuste und preßte sie gegen meinen Bauch, so daß ich einen Augenblick lang zu fallen begann und meine Arme wieder ausbreiten mußte. Noch jetzt, wo ich mir dieses Bild für mein Journal wieder vors innere Auge hole, erfassen mich Ekel und Zorn. Falls diese wenigen Worte von Florimel – oder wer sie in Wirklichkeit sein mag – sich bewahrheiten, weiß ich nicht, wie ich es Renie Sulaweyo sagen soll. Dann lieber lügen. Lieber ihr sagen, ihr Bruder sei tot. Lieber Renie alles mögliche erzählen, als zulassen, daß sie so eine gräßliche Wahrheit auch nur vermutet.«
     
    »Je weiter die Geister uns durch die labyrinthischen Räume der Nacht führten, um so verständlicher wurden ihre Stimmen. Ganze Sätze hoben sich aus dem undifferenzierten Klangbrei heraus, zusammenhanglose Gedankenfetzen und Alltagsbemerkungen, die an eine zufällig angezapfte Fonleitung denken ließen. Manche sprachen von Dingen, die sie getan hatten oder tun wollten. Andere plapperten einfach scheinbar sinnlose Worte vor sich hin. Eine hauchige, lispelnde Stimme, die sich nach einem ganz kleinen Mädchen anhörte, sagte einen Kindervers auf, an den ich mich aus meiner eigenen Kindheit erinnerte, und einen Moment glaubte ich beinahe, meinen eigenen Geist zu hören, den Schatten des Kindes, das in der Nacht des Stromausfalls im Pestalozzi Institut so gut wie ermordet worden war.
    Wir gelangten schließlich in einen offenen Raum, eine große unterirdische Höhle, ähnlich dem Hohlraum in einer Frucht, der den Kern birgt. Aber diese Frucht war verfault, und der Kern war fort. Die Leere war mit sirrenden, schwirrenden Dingen gefüllt, mit Hauchen und leisen Seufzern und Berührungen wie von hängenden Spinnweben. Wenn uns vorher tausend Stimmen umgeben hatten, schienen es jetzt hundertmal, tausendmal so viele zu sein.
    Während wir fünf lebendigen Menschen den Tränen und der Panik nahe inmitten dieser unendlichen Replikation des Verlusts schwebten und trotz des warmen Aufwinds zitterten, begannen sich die Stimmen aufeinander einzuschwingen. Muster bildeten sich nach und nach aus dem Chaos heraus, wie sie sich in dem großen Fluß herausgebildet

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