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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Leute. Das heißt, ich mag die Freiheit, die sie heute haben, aber die ich nie hatte.
    Ich bewundere es, daß sie einfach sein können, was sie wollen – daß sie sich einen neuen Sim machen, in eine neue Welt eintauchen, alles mögliche sein können. Als ich jung war, mußte man immer noch alles mit direktem Gesichtskontakt machen, und ich fand mein Gesicht – wie soll ich sagen? – nie besonders berauschend. Nicht gräßlich, versteh mich nicht falsch, aber auch nicht sehr toll. Nicht… aufregend. Und als ich eines Tages aus dem Postdienst ausschied – bis vor ungefähr zehn Jahren war ich Postinspektor, Leiter der regionalen Aufsichtsbehörde sogar –, schuf ich mir ein eigenes Leben im Netz. Und keiner kümmerte sich darum, wer ich in Wirklichkeit war, nur wer ich online war, zählte. Ich hab mir diese Figur kreiert, Sweet William, und sie so schrill gemacht, wie ich konnte. Geschlechterrollen, gesellschaftliche Konventionen, was du willst, ich hab’s getrieben bis zum Gehtnichtmehr. Ich lernte obskure Dichter auswendig, ein paar von den NewBeat-Typen, ein paar von den Stillen Apokalyptikern, und gab die Sachen als meine eigenen aus. Es war die tollste Zeit meines Lebens, und ich verstand im nachhinein nicht, warum ich nicht eher in den Ruhestand gegangen war.
    Auf einmal wurden einige der Jüngeren aus meiner Online-Clique krank und verschwanden aus dem Netz. Es war diese Sache, die wir mittlerweile alle kennen, diese Komakrankheit, aber damals wußte ich nur, daß ein paar nette junge Leute weg waren, so gut wie tot, und keiner wußte, warum. Und es erschütterte mich, daß einige noch dazu so jung waren. Wie ich hatten sie etwas gespielt, das sie nicht waren – einer davon war erst zwölf! Also fing ich an, mir genauer anzuschauen, was es damit auf sich hatte, mit diesen merkwürdigen Erkrankungen.‹ Er lächelte ein wenig. ›Ich denke, es ähnelte ein bißchen der Arbeit, die ich gewohnt war, und ich muß gestehen, daß es ein wenig zur Obsession wurde. Je mehr ich suchte, um so mehr Fragen stellten sich, bis ich auf den ersten von Sellars’ kleinen Fingerzeigen stieß. Schließlich erhielt ich einen Wink von einem guten Bekannten, der ein ziemlich hohes Tier bei der UNComm ist, und häckte mich auf der Suche nach Atascos Stadt in das Otherlandnetzwerk rein. Tja, den Rest kennst du.‹ Er nickte zum Zeichen, daß seine Geschichte aus war. Ich verspürte eine gewisse Unzufriedenheit, nicht mit der Geschichte selbst, sondern mit der Art, wie er erst so lange ein Geheimnis darum gemacht und sie dann ganz plötzlich erzählt hatte. War es schlicht die Furcht davor, was uns bevorstand? Es kam mir merkwürdig vor – wir waren seit unserem Eintritt in das Netzwerk fast ständig in Gefahr gewesen. Konnte es sein, daß er menschlichen Kontakt bei mir suchte? Wenn ja, dann konnte ich ihm nicht geben, was er brauchte. Vielleicht behandelte ich ihn ungerecht, dachte ich schon. Viele haben mir vorgeworfen, ich sei kalt, distanziert.
    Aber seine Gründe und meine Reaktionen mochten sein, wie sie wollten, Sweet William schien jedenfalls mehr zu wollen, als einfach sein Bekenntnis loszuwerden. Er fragte nach meinem Leben. Ich erzählte ihm, wo ich aufgewachsen war und daß ich mein Augenlicht bei einem Unfall als Kind verloren hatte, was nicht die ganze Wahrheit war, aber ich war mir nicht sicher, warum er danach fragte. Er war immer noch merkwürdig aufgedreht, und ich fand seine Energien beunruhigend. William wollte auch wissen, was ich von dem Verbrechen hielt, dessen wir angeklagt waren, ob ich irgendeine Vorstellung hätte, was wirklich geschehen sein mochte. Das ganze Gespräch hatte einen ungewöhnlichen Beigeschmack, als ob es einen Subtext gäbe, den ich nicht recht mitbekam. Nach einer weiteren Viertelstunde scheinbar zusammenhangloser Fragen und belanglosen Geplauders verabschiedete er sich mit einem flotten Spruch und setzte sich allein in eine Ecke der Höhle.
    Während ich noch über all das nachgrübelte, kam Florimel und fragte mich, was Baut-ein-Feuer-auf-Luft mir über das vermißte Mädchen erzählt habe. Da ich sie und Sweet William vorher in angeregter Unterhaltung gesehen hatte, sagte ich: ›William ist heute abend erstaunlich gesprächig.‹
    Sie machte ein noch ausdrucksloseres Gesicht als sonst und erwiderte: ›Ich nicht.‹ Dann drehte sie sich um und begab sich wieder an ihren Platz ein kleines Stück vom Feuer entfernt. Vielleicht meinte sie, ich wolle sie aushorchen. Vielleicht

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