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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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halten, wenn wir uns entsprechend bewegten.
    Quan Li hatte die Kunst, sich aufrecht zu halten, noch nicht ganz gemeistert, und ich spürte jetzt, wie sie sich ein kleines Stück von mir entfernt um Balance bemühte. Bevor ich etwas sagen konnte, um ihre Furcht zu lindern, schob sich der große Stein wieder über das Loch, und vollkommene Finsternis umgab uns.«
     
    »Wenn du, unbekannter Hörer, meine anderen Journaleinträge mitbekommen hast, wirst du natürlich schon vermuten, daß die Situation für mich nicht so schlimm war wie für meine Begleiter – am Anfang wenigstens. Die Dunkelheit ist mein Element, und der Wegfall des Lichts teilte sich mir lediglich als Befehl an die Simulation mit, keine Dinge mehr sichtbar zu machen, nicht als tatsächliche Einschränkung meiner Wahrnehmungsfähigkeit. Ich konnte die Windungen der Höhle um uns herum, ja sogar die gerieften Wände und die spitzen Stalaktiten als Wirbel im Informationsstrom ausmachen, ganz ähnlich wie eine, die einen Fluß beobachtet, die Lage dicht unter der Oberfläche liegender Steine an der Bewegung des Wassers erkennen kann.
    Ich hatte mir gelobt, mein Schicksal entschiedener in die Hand zu nehmen, und während die anderen nun entsetzte Schreie ausstießen, machte ich mich daher in aller Ruhe mit den Einzelheiten unserer Umgebung vertraut und versuchte, ein inneres Bild davon zu gewinnen.
    In aller Ruhe? Na ja, vielleicht auch nicht. Ein Mann, mit dem ich als Studentin eine Beziehung hatte – bevor ich mich in meine Festung unter dem Schwarzen Berg zurückzog und gewissermaßen den Tunnel hinter mir dichtmachte –, sagte einmal, ich sei kühl und hart wie Titan und genauso flexibel. Er spielte damit auf meine Angewohnheit an, mir die Dinge emotional vom Leib zu halten. Für Leute, die mich nicht kennen, muß es sich sonderbar anhören, wenn ich die gerade erwähnten Schrecken und die noch größeren und bizarreren, zu denen ich gleich komme, in meiner distanzierten Art beschreibe. Doch obwohl die Worte des Mannes mir damals weh taten, fragte ich ihn: ›Was erwartest du? Meinst du vielleicht, eine Frau, die nicht sehen kann, sollte sich kopfüber in unbekannte Situationen stürzen?‹
    ›Kopfüber?‹ sagte er und schüttete sich aus vor Lachen. Er war ein Mistkerl, doch er hatte einen ganz guten Sinn für Humor. ›Du und dich kopfüber wo reinstürzen? Du kannst ja nicht mal ein Zimmer betreten, ohne erst die Hauspläne zu studieren.‹
    Das war nicht völlig übertrieben. Und wenn ich mir jetzt selber zuhöre, erkenne ich jene Martine wieder, die alles nachprüfen, alles katalogisieren muß, vielleicht aus der Notwendigkeit heraus, mir Wege zurechtzulegen, bevor ich mich durch eine Welt bewegen kann, in der die anderen einfach zuhause sind.
    Es kann daher sein, daß ich alles zu kalt, zu sicher klingen lasse. Meine Gefährten irrten im Dunkeln herum. Ich fand mich ganz gut zurecht. Aber ich hatte dennoch Angst, und ich lernte bald, daß diese Angst gerechtfertigt war.
    Die Höhle war riesig und wie eine zerklüftete Wabe, voller Nischen und sich windender Gänge. Wir hingen in dem leeren Raum unter der Öffnung, aber überall in der Finsternis lauerten messerscharfe Steinkanten und mörderische Spitzen. Ja, wir konnten fliegen, aber was nutzte uns das, wenn wir nicht sehen konnten und in jeder Richtung nach wenigen Zentimetern vielleicht ein Hindernis drohte, das uns schwer verletzen oder töten konnte? Quan Li hatte sich bereits den Arm an einer schroffen Ecke aufgerissen. Sogar die Stimme der sonst so unerschrockenen Florimel bebte vor Panik, die sie offenbar nur mühsam bezähmte.
    Außerdem waren wir nicht allein, auch wenn die anderen es noch nicht gemerkt hatten.
    Nachdem ich mir eine ungefähre Vorstellung von dem Raum verschafft hatte, der uns umgab, rief ich meinen Gefährten zu, sie sollten möglichst an Ort und Stelle bleiben. Während ich einigen erklärte, wohin sie sich bewegen sollten, um sich aus der unmittelbaren Gefahr zu begeben, bemerkte ich eine Veränderung des Informationsfeldes – zunächst nur winzige Kräuselungen, die jedoch rasch größer und allgemeiner wurden. Von den übrigen war Quan Li die erste, die die Stimmen hörte.
    ›Was ist das?‹ rief sie. ›Jemand … da hinten ist jemand …‹
    Die Töne wurden lauter, als kämen sie flüsternd aus allen Winkeln des Labyrinths auf uns zu – ein unsichtbares Stimmengestöber, das die Dunkelheit zunächst nur mit Stöhnen und Seufzen füllte, wie es schien,

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