Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Baukranes. Es schraubte seinen dreieckigen Kopf wie ziellos suchend hin und her, doch kam dabei unbeirrt auf sie zu.
»Er ist es.« !Xabbu sprach mit rauh flüsternder, gepreßter Stimme. »Es ist Großvater Mantis.«
»Nein, das ist er nicht.« Sie legte die Hand um sein schlankes Pavianvorderbein und versuchte ruhig zu bleiben, obwohl die Angst sie wie mit Nadeln durchbohrte, ihr Herz in der Brust rasen ließ und ihr den Atem benahm. »Es ist… es ist auch eine Simulation, !Xabbu . Bloß eine gewöhnliche Mantis, eine Gottesanbeterin.« Sofern ein Vieh von der relativen Größe eines Tyrannosaurus in irgendeiner Weise gewöhnlich genannt werden konnte, schoß es ihr durch den Kopf. »Eines von Kunoharas Insekten.«
»Das ist Betrug.« Cullens Stimme klang nüchtern-sachlich. »Das ist eine Sphodromantis centralis. Die sind hier gar nicht heimisch, sondern stammen aus Afrika.«
Renie fand, daß das für einen Mann, der selber Spray von europäischen Raubameisen eingeschleppt hatte, eine ziemlich unverfrorene Bemerkung war, aber in Anbetracht der nahen und ständig näher kommenden Gottesanbeterin schien der Zeitpunkt für eine Diskussion über VR-Ethik schlecht gewählt zu sein. Sie zog an !Xabbus haarigem Arm. »Laß uns hier verschwinden.«
»Es sei denn, daß sie auf einem Schiff mitgekommen sein soll«, murmelte Cullen vor sich hin. »Auf diese Weise sind die überhaupt erst nach Amerika gekommen.«
»Lieber Himmel, hör auf mit dem Quatsch! Laß uns -« Sie stockte. Die Gottesanbeterin hatte ihnen den Kopf zugewandt und kam jetzt schneller den Hügel heraufgestelzt, die sichelartigen Fangarme ausgestreckt, eine ungeheure Mordmaschine. »Was fressen diese Biester?« hauchte Renie.
»Alles, was sich bewegt«, antwortete Cullen.
Sie ließ !Xabbu los und schob Cullen mehrere Schritte nach hinten ins Innere des Hangars. »Los! Du hast gesagt, es gäbe noch ein Flugzeug oder sowas – das von Angela, hast du gesagt. Wo?«
»Ihren Käfer. Auf dem Dach, glaub ich. Falls sie ihn nicht selber genommen hat.«
»Gut. Auf geht’s!« Sie guckte sich um. » !Xabbu !« schrie sie auf. »Was machst du da?« Der Pavian kauerte immer noch unter dem zerknautschten Hangartor, als wartete er auf den Tod. Sie sprintete zurück und hob ihn hoch, nicht ohne eine gewisse Anstrengung, nachdem sie Lenore schon so lange getragen hatte.
»Er ist es, und ich habe ihn gesehen«, sagte er in ihr Ohr. »Daß ich das erleben durfte!«
»Das ist kein ›Er‹, und es ist ganz gewiß nicht Gott, es ist eine riesige, affenfressende Fangschrecke. Cullen, setzt du dich jetzt endlich in Bewegung? Ich weiß nicht, wie man aufs Dach kommt – du weißt das!«
Als ob er plötzlich aus einem Traum erwachte, drehte sich der Entomologe um und rannte auf die Rückwand der Halle zu, dicht gefolgt von Renie. Sie hatten gerade die nach innen führende Tür erreicht, da gab das simulierte Metall des Hangartors ein protestierendes Kreischen von sich. Renie sah zurück. Die Gottesanbeterin hatte sich fast ganz hineingezwängt und zog in diesem Moment ihren langen Hinterleib samt Beinen durch die Öffnung. Der Kopf drehte sich auf eine grausige, roboterhafte Art, während die blanken grünen Kuppeln der Augen ihre Flucht verfolgten.
Die Tür ins Innere des Komplexes war unverriegelt und glitt beim Anfassen auf, aber es gab keine Möglichkeit, sie hinter ihnen abzuschließen. !Xabbu wand sich in Renies Armen. »Ich habe mich wieder in der Gewalt, Renie«, versicherte er. »Setz mich ab.«
Sie ließ ihn hinunter, und zusammen stürzten sie alle auf die Tür am hinteren Ende des Korridors zu.
»Warum können wir uns nicht einfach dort hinversetzen?« fragte Renie Cullen, während sie simulierten Trümmern auswich, die ihr im Weg lagen. »Man muß hier doch gar nicht gehen und rennen, oder?«
»Weil es nicht funktioniert, verdammt nochmal!« schrie er. »Ich hab’s probiert. Kunohara hat das Protokoll abgestellt oder so was in der Art. Freu dich, daß wir in weiser Voraussicht Aufzüge eingebaut haben – um sicherzugehen, falls er mal seine Meinung darüber ändern sollte, wie viele Abkürzungen wir hier drinnen nehmen dürfen.«
Der Aufzug stand in ihrem Stockwerk, und die Türen waren halb auf, doch Renies kurzer Hoffnungsschimmer verblaßte sofort: Die Türen waren nach außen gebogen, als ob jemand versucht hätte, sie von innen aufzubrechen. Noch während sie darauf starrten, regte sich dahinter etwas Großes und Dunkles, und die klaffenden
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