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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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fester, als Lenore von fühlerwackelnden Arbeiterinnen umringt wurde.
    »Nimm das Abwehrspray!« schrie Cullen. Die winzige Gestalt reagierte nicht. »Menschenskind, Kwok, nimm das Solenopsis-Spray!«
    Auf einmal bewegte sie sich doch und machte Anstalten, auf Ellbogen und untauglichen Beinen davonzukriechen, doch es war zu spät.
    Aus den Augenwinkeln sah Renie Cullen zusammenzucken. »O mein Gott«, sagte er, »sie schreit. Gütiger Himmel. Warum schreit sie? Es ist bloß eine Simulation – es gibt keine Schmerzfunktion …« Ihm versagte die Stimme, sein Unterkiefer klappte herunter, und er war aschgrau.
    »Sie hat einfach Angst«, sagte Renie. »Es muß… es muß grauenhaft sein, dort unten zu sein, selbst wenn es nur eine Simulation ist.« Sie betete inbrünstig darum, daß ihre Instinkte sie trogen. »Das wird alles sein.«
    »O Gott, sie töten sie!« Cullen sprang auf und hätte fast das Gleichgewicht verloren. !Xabbu packte sein Jumpsuitbein, aber der Pavian hatte zu wenig Masse, um viel auszurichten. Renie erwischte den Insektenforscher gerade noch am Gürtel und zog ihn von der Kante fort. »Wir müssen …«, brabbelte er, »wir können nicht…« Cullen verstummte, aber er konnte den Blick nicht abwenden.
    Unten hatten die normalen Arbeiterinnen ihr Werk beendet. Lenores Sim war klein gewesen; sie konnten die Stücke selber zurück zum Schwarm tragen und mußten keine der größeren Submajor-Arbeiterinnen zu Hilfe rufen.
    Cullen legte das Gesicht in die Hände und weinte. Renie und !Xabbu beobachteten schweigend, wie der ganze Schwarm vorbeiflutete.
    Es dauerte fast eine Stunde, bis die letzten Nachzügler verschwunden waren. Der Strom der Ameisen hatte so lange angehalten, daß Renie das Grauen wie auch die Faszination vergangen waren. Sie fühlte sich stumpf.
    »Es war Schock, weiter nichts.« Cullen hatte offenbar seine Selbstbeherrschung wiedererlangt. »Lenore ist natürlich offline gegangen – es war bloß so scheußlich mit anzusehen.« Er beäugte über den Rand des Blattes hinweg das kahle Feld der Verwüstung. »Ich hatte nicht erwartet, daß es so … so schlimm sein würde.«
    »Was hast du da eben gerufen?« fragte Renie. »Irgendwas mit einem Spray?«
    Cullen zog ein silbriges Röhrchen aus der Tasche. »Chemisches Abwehrspray mit dem Duftstoff von Solenopsis fugax, Raubameisen. Wir haben es sozusagen hier eingeschmuggelt, um einen gewissen Schutz im offenen Gelände zu haben. Jeder aus dem Stock hat bei der Feldarbeit eines dabei.« Er steckte das Röhrchen wieder in die Tasche und wandte sich von der Blattkante ab. »Solenopsis ist eigentlich eine europäische Ameise, deshalb ist es wohl in gewisser Hinsicht gemogelt.«
    Renie starrte ihn sprachlos an. Nur jemand, der in einer Phantasiewelt lebte – oder, vermutete sie, der durch und durch Wissenschaftler war –, konnte mit ansehen, was soeben seiner Kollegin widerfahren war, und dennoch weiter so reden, als ob das Ganze nur ein leicht danebengegangenes Experiment wäre. Aber ihm zu widersprechen war sinnlos – sie konnte nichts beweisen. »Wir brechen besser auf«, sagte sie statt dessen. »Der Schwarm muß inzwischen weit weg sein.«
    Cullen sah sie mit ausdrucksloser Miene an. »Aufbrechen? Wohin denn?«
    »Zum Stock, würde ich sagen. Nachschauen, ob noch etwas übrig ist, womit wir hier rauskommen.«
    !Xabbu blickte auf. »Wir sollten zurück zum Fluß gehen.«
    »Ich weiß nicht, wovon ihr redet, die eine wie der andere«, sagte Cullen. »Die Simulation ist hin. Ehrlich gesagt, verstehe ich euch gar nicht – ihr tut so, als wäre das alles real. Es hat keinen Zweck, irgendwo hinzugehen. Es gibt nichts, wo man hingehen könnte.«
    »Du bist es, der die Situation nicht begreift.« Sie begab sich zum Blattstiel und machte sich an den Abstieg. »Überhaupt gibt es viel, was du nicht begreifst, und ich habe jetzt leider nicht die Zeit und die Kraft, es dir zu erklären, aber selbst dir muß aufgefallen sein, daß hier etwas ziemlich gründlich schiefläuft. Wenn du also überleben und das RL wiedersehen willst, rate ich dir dringend, daß du den Mund hältst und dich in Bewegung setzt.«
     
    Es war wie ein Gang über ein Schlachtfeld, dachte Renie, viel schlimmer, als es oben vom Blatt aus den Anschein gehabt hatte. Wo der Eciton-Schwarm drüberweg gezogen war, war der Mikrodschungel radikal von sämtlichen Lebewesen außer Pflanzen gesäubert worden, und auch von denen hatten nur die größten unbeschadet überlebt: Am Boden

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