Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
einst irgendwelche Aufführungen stattgefunden. Die meisten Sitze waren kaputt. Die leere Fläche in der Mitte des Raumes, wo der Staub dick wie Puderzucker lag, gab keinen Hinweis darauf, was die Zuschauer hier einst gesehen haben mochten.
Hinter einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite stießen sie auf eine breite Galerie, die ähnlich wie der Korridor vorher auf einer Seite von der Wand, auf der anderen jedoch von einem kunstvollen Holzgeländer begrenzt war. Über dem Gang verlief zwar noch eine Decke, aber hinter dem Geländer kam keine Wand. Jenseits davon sahen sie nur Dunkel; das Geräusch fließenden Wassers stieg leise aus der Tiefe auf.
Renie prüfte das Geländer sorgfältig, bevor sie sich darauf lehnte. Der Fackelschein fiel auf nichts, weder in der Tiefe noch gegenüber. »Lieber Himmel«, stöhnte Renie. »Es ist ein weiter Weg zum Fluß – er muß mindestens zehn Stockwerke unter uns sein.«
»Häng dich nicht so raus«, riet T4b ihr besorgt. »Mann, komm da ex von.«
»Ich bin müde«, erklärte Emily. »Ich will nicht mehr weitergehen.«
!Xabbu befingerte das Geländer. »Ich könnte hinunterklettern und nachschauen, was dort ist.«
»Untersteh dich.« Renie blickte die anderen an. »Können wir noch ein kleines Stück weiter? Wenn wir hier rechts gehen, bewegen wir uns von der Richtung her wieder auf unsern Ausgangspunkt zu.«
Die Gruppe willigte ohne große Begeisterung ein, nur Emily mußte ihre Meinung noch mehrmals deutlich zum Ausdruck bringen. Renie bemühte sich nach Kräften um Geduld – das Mädchen war schließlich schwanger, jedenfalls schien es so, und hatte jetzt gute zwei Stunden laufen müssen – und konzentrierte sich darauf, sich das zu erklären, was sie bis jetzt gesehen hatten.
»Könnte es sein, daß das hier den Buckingham-Palast oder den Vatikan darstellen soll?« fragte sie Martine leise. »Es ist so riesig!«
Martine schüttelte den Kopf. »Es gleicht keinem Bauwerk, von dem ich je gehört habe, und mir scheint es viel größer zu sein als diese beiden.«
In ihrer ungewöhnlichen Situation, in der die Fackeln links vom Geländer weiterhin nichts als leeren Raum erhellten und ihnen das starke, aber gedämpfte Rauschen von Wasser in den Ohren klang, bemerkten sie zunächst gar nicht, daß die Galerie sich verbreiterte – daß die Wand auf der Rechten mit ihrer Reihe von Türen sich jetzt mehr und mehr von dem Geländer wegkrümmte. Als der Zwischenraum irgendwann zehn, zwölf Meter betrug, stieß die Schar plötzlich auf ein zweites Geländer, das erst im Bogen von der Wandseite herankam und dann parallel zum ersten weiterlief.
Sie blieben stehen und sahen sich nervös um. Obwohl die mittlerweile gewohnte Wand mit den Türen und Nischen sich rechts von ihnen in einer weiten Kurve fortsetzte, brach die Galerie daneben ab und bildete das zweite Geländer eine unmißverständliche Absperrung. Dahinter war die Dunkelheit fast so tief wie auf der linken Seite und wurde nur von wenigen vage schimmernden eckigen Formen in der Ferne durchbrochen. Das doppelte Geländer faßte einen mit Teppich ausgelegten Laufsteg ein, der einsam wie eine Brücke über eine Schlucht von ihnen fort ins Leere führte.
!Xabbu war bereits von der sicheren Galerie heruntergetreten und bewegte sich vorsichtig den Holzsteg entlang, wobei er trotz seines tierischen Gangs die Fackel hoch über den Kopf hielt. »Fühlt sich stabil an«, sagte er, »und scheint auch in gutem Zustand zu sein.«
»Nicht da drauf«, sagte Emily schaudernd. »Will nicht.«
Renie verspürte auch keine besondere Lust dazu, aber ihr kam plötzlich ein Gedanke. »Wartet mal. Die Lichter, da drüben.« Sie deutete auf die schwach leuchtenden Rechtecke weit hinten auf der rechten Seite des großen Freiraums.
»Es sind Fenster«, sagte Florimel. »Was soll damit sein?«
»Es sind erleuchtete Fenster«, erwiderte Renie. »Die ersten Lichter außer unsern eigenen, die wir bis jetzt gesehen haben.«
»Na und? Sie sind so weit weg, daß man sie nicht mal richtig erkennen kann. Wir haben keine Ferngläser dabei.«
»Aber es könnte irgendwo da vorn eine Querverbindung geben«, meinte Renie. »Oder vielleicht geht dieser offene Raum nur ein kurzes Stück weit, und auf der andern Seite kommt bald wieder eine Galerie. So oder so ist es das erste Zeichen, daß sich außer uns jemand Lebendiges hier aufhält.«
Die Debatte, die sich anschloß, war angespannt und hätte länger gedauert, wenn nicht alle müde gewesen
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