Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
gewiß nicht weniger kompliziert sind als in der wirklichen Welt. Diesmal jedoch gibt es Unterschiede, positive und negative. Wir haben jetzt ein Ziel, nämlich die Wiedergewinnung von Renies Zugangsgerät, und wie ich bei meinem letzten müde und hastig subvokalisierten Diktat erwähnte, haben !Xabbu und ich zudem die Möglichkeit entdeckt, auch ohne Hilfsmittel auf das System einzuwirken, wenngleich nur sehr geringfügig. Ich habe keine Worte dafür – das Ganze war gewissermaßen eine extreme Übung in wortloser Kommunikation –, aber ich bin dadurch auf Ideen gekommen, die ich sorgfältig prüfen muß. Wie dem auch sei, wir sind auf der Spur eines Mörders in diese Simulationswelt hineingegangen, und das bißchen, was wir erfahren haben, hat unsere Chancen nicht vergrößert, diesen Gegner zu überwinden, von den eigentlichen Feinden, der Gralsbruderschaft, ganz zu schweigen.
Aber es hat keinen Zweck, sich verrückt zu machen, wir können nicht mehr als sorgfältig planen, und die Simulation selbst ist durchaus nicht uninteressant. Der große, seit langem verlassene Raum, der bei meinem letzten Journaldiktat meine einzige Erfahrungsgrundlage war, ist, wie sich herausstellte, nur einer von vielen solcher Räume. Wir sind stundenlang durch Korridore und andere Riesensäle geirrt und erst ganz zum Schluß auf andere Leute gestoßen – einen Jungen namens Zekiel und seine Liebste, Sidri. Wir haben mit ihnen an einer breiten Stelle einer Galerie hoch über dem Fluß … tja, kampiert, könnte man vielleicht sagen, und stundenlang geredet. Sie sind von den Ihren fortgelaufen, eine erfreuliche Mitteilung, weil wir jetzt wenigstens wissen, daß es in dieser Spukschloßatmosphäre überhaupt andere Menschen gibt. Zekiel meinte, sie seien gerade deswegen in diesen Teil des Hauses geflohen, weil er verlassen ist – wobei mir die Bezeichnung ›Haus‹ für ein derartiges Mammutbauwerk eine ziemliche Untertreibung zu sein scheint. Sie fürchten, daß Sidris Orden sie wieder einfangen will, da Novizinnen der Schwesternschaft gewissermaßen als Leibeigene übergeben werden und weder heiraten noch den Orden verlassen dürfen. Das Paar ist jetzt unterwegs zu einem anderen Teil des Hauses, wo sie beide, so glauben sie, frei zusammenleben können, nämlich zum sogenannten Großen Refektorium, das sie, soweit mir ersichtlich ist, nur aus alten gerüchtweisen Überlieferungen kennen.
Wenn ich sie so erzählen höre, verwundert es mich, wie sehr alle Teile von Anderland, die wir bisher gesehen haben, von Mythen und Geschichten durchdrungen sind. Eine merkwürdige Obsession, scheint mir, wenn man sich einmal klarmacht, wer das alles hier gebaut hat. Ich hätte nie gedacht, daß milliardenschwere Industrielle und politische Tyrannen sich für die Strukturen von Märchen interessieren, aber wahrscheinlich kenne ich einfach nicht sehr viele.
Sidri und Zekiel können beide nicht viel älter als fünfzehn oder sechzehn sein, aber sie sind Produkte einer mehr oder weniger mittelalterlichen Ordnung und betrachten sich offensichtlich als volljährig. Sidris Orden, die Wäscheschrankschwestern, scheint irgendwie mit der kultischen Pflege von … na ja, von Wäsche betraut zu sein. Zekiels Zunft, ansässig in der sogenannten Messerschmiede, hütet und pflegt die Schneidewerkzeuge eines Küchenkomplexes, der nach seiner Beschreibung sehr altertümlich und ausgedehnt sein muß. Um sich und seine Angebetete vor Banditen und Ungeheuern zu schützen, die beide, wie er mit großer Bestimmtheit behauptet, die Flure dieses verödeten Hausteiles unsicher machen, hat er eine der Zeremonialklingen gestohlen, ein großes Hackmesser mit dem liebreizenden Namen ›Flechsenfetz‹. Für dieses Verbrechen, denkt er, wird er jetzt gewissermaßen steckbrieflich gesucht, und ich bin gern bereit, ihm das zu glauben.
Was uns betrifft, die Auswärtigen, so haben wir immer noch keine Vorstellung von den wahren Ausmaßen dieses Gebäudes und der Welt, von der es umgeben ist. Sidri wie auch Zekiel haben auf die Frage leicht befremdet reagiert, vielleicht hat ja ihre streng reglementierte, altmodische Erziehung sie davon abgehalten, herumzukommen oder auch nur nachzuforschen. Wir haben zwar vereinzelte Hinweise auf spätere technische Erfindungen gesehen, die vom Ende des neunzehnten oder vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts stammen könnten, aber nach Zekiels Beschreibungen zu urteilen leben die meisten Bewohner ungefähr wie die frühen Siedler in Amerika,
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