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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Vorarbeiter hatten.
    Aber er nahm keine Sozialhilfe, wie er ständig betonte. Carlos junior – niemals Carlito genannt, »Karlchen«, weil auch das aus irgendeinem Grund seinen Vater beleidigt hätte – bekam die Predigt so häufig zu hören, daß er sie an seiner Stelle hätte herbeten können.
    Die Frau von Carlos senior dagegen war weniger fanatisch auf ihre Unabhängigkeit bedacht. Sie war allerdings auch nicht so dumm, ihren Gatten wissen zu lassen, daß manches, womit sie für die Ernährung ihrer fünf Kinder in der Wabensiedlung unter dem Highway 4 sorgte, nicht in dem Lebensmittelgeschäft verdient war, wo sie die schmutzigen Fußböden wischte und Kisten von einem Ende des Lagers zum anderen schleppte, sondern in Wirklichkeit seine verhaßte Sozialhilfe war, und zwar in Form staatlicher Unterstützung für notleidende Familien. Essensbons.
    Es war nicht so, daß Carlos junior gegen die weltanschaulichen Positionen seines Vaters etwas einzuwenden gehabt hätte. Auf einer sehr elementaren Ebene verstand und billigte er das Mißtrauen gegen helfende Hände sogar, das Carlos senior hegte, und es wäre ihm auch alles andere als recht gewesen, wenn man ihn »Carlito« gerufen hätte. Seine Frontstellung gegen seinen Vater war viel grundsätzlicher. Er haßte ihn. Die Brutalität und Großmäuligkeit von Carlos senior wäre weitaus erträglicher gewesen, wenn die Izabals wenigstens in so etwas wie normaler Armut gelebt hätten, aber sie waren ärmer als arm. Wenn sein Vater ihre Lage mit der von Ratten verglich, traf das erschreckend genau zu.
    Carlos junior betrachtete sich von seinem achten Lebensjahr an als Mann. Brachten er und seine Freunde nicht mindestens ebensoviel nach Hause wie ihre bescheuerten, hoffnungslosen Väter? Was machte es schon für einen Unterschied, daß sie durch Diebstahl ergatterten, wofür andere schwitzten und schufteten, außer daß es weniger Arbeit und unendlich viel aufregender war? Als er seine Freunde Beto und Iskander kennenlernte und sie ihn Carlito nennen wollten, gab er Iskander eine aufs Auge und versetzte Beto einen solchen Tritt, daß der kleinere Junge weinend nach Hause rannte. Er hatte für seine Ablehnung des Namens andere Gründe als sein Vater, aber seine Entschiedenheit war genausogroß. Dabei hatte er durchaus nichts gegen Spitznamen. Als Iskander später anfing, ihn »Cho-Cho« zu nennen, weil eine Puffreismarke so hieß, die er besonders gern klaute, ließ er sich den Namen gnädig gefallen.
    Er und Beto und Iskander unternahmen viel zusammen, das meiste zu dem Zweck, Geld in die Taschen, Süßigkeiten in die verschwitzten Fäuste und Pharmapflaster auf alle Stellen der Haut zu bekommen, die sich mit Spucke so sauber reiben ließen, daß die Stoffübertragung klappte. Im Grunde genommen führten sie ein Unternehmen mit verschiedenen Sparten, von denen einige mindestens so spannend und kreativ waren wie das, was Leute mit Collegeabschluß auf die Beine stellten. Und auch in der Nacht, als das schreckliche Unglück passierte, waren sie mit einem ihrer Projekte zugange gewesen, mit der »Molkerei«, wie sie es nannten.
    Die International Vending Company hatte den Grundgedanken der Speisen- und Getränkelieferung um ein interessantes Novum bereichert, eine Erfindung mit dem ziemlich affektierten Namen »Rollboter« – Verkaufsautomaten auf leisen Kettensohlen, die in großräumigen Revieren mittels einfacher Codes von Ort zu Ort gelenkt wurden. Die IVC rechnete nicht damit, aus ihnen soviel Geld herauszuholen wie aus den normalen stationären Automaten, aber die großen Kästen waren auch mobile Werbeträger, die schnell gespielte Reklameliedchen dudelten und Kunden, die in den Bereich des Infrarotauges kamen, mit fröhlichem Geplapper vom Band begrüßten. Es dauerte nicht lange, und Cho-Cho und seine Freunde (und Hunderte ihresgleichen in jeder größeren Stadt) hatten herausgefunden, daß die Automaten sich in andere Stadtviertel transportieren ließen und damit für die IVC unauffindbar waren (was ein simpler Chip hätte verhindern können, wenn die zuständigen Verkaufsstrategen nicht ganz so naiv gewesen wären). Sobald die Dinger in ihrer neuen Umgebung ausgesetzt worden waren, konnten die Einnahmen gefahrlos von Cho-Cho und seinem kleinen Konsortium abkassiert werden, bis die Vorräte ausgingen. Nachdem sie die Kreditschlitze blockiert hatten, die die meisten Leute ansonsten benutzt hätten, nahm jeder Automat immer noch genug altmodisches Münzgeld ein, um

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