Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
›Stimmt‹, sagte er, ›wobei ich wette, auch wenn dieses Gerät an Gäste ausgeliehen wird, soll der Buchstabe darauf nicht bloß den Eindruck eines altmodischen Feuerzeugs verstärken. Es ist ein Monogramm der Person, die es gemacht hat.‹ Seine Stimme war immer noch gut gelaunt, aber ich hörte den harten, herzlosen Ton, der immer dicht unter der Oberfläche mitklang. ›Damit sollte es sehr viel einfacher sein, herauszufinden, wem es gehört.‹
›Wieso interessiert dich das überhaupt?‹ Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen. ›Ich dachte, du willst wissen, wie man es benutzt.‹
Er wurde still. Ich kann nicht erklären, was meine Sinne mir zeigen, aber es war, als würde er am ganzen Leib zu Eis erfrieren – ein Wandel, der sich möglicherweise nur in meiner Einbildung abspielte, als mir klar wurde, daß ich zu weit gegangen war. Nur die Tatsache, daß er mich noch gebrauchen konnte, rettete mich in dem Moment, das weiß ich.
›Weil ich Pläne habe‹, sagte er endlich. ›Und die gehen dich gar nichts an, Süße.‹ Er stand abrupt auf und ging zu der Leiche der Obergeschoßküchenmamsell, die ein Stück die Wand hinuntergerutscht war. Er faßte ihr in die Haare und riß den Körper hoch. ›Du hörst nicht aufmerksam zu, Nuba‹, sagte er zu dem Kadaver – das könnte ihr Name gewesen sein oder ein Wort, das das System nicht übersetzt. ›Martine gibt sich solche Mühe zu beweisen, wie klug und nützlich sie ist – du solltest besser aufpassen.‹ Er drehte sich um, und ich fühlte das breite Grinsen auf seinem Gesicht, hörte, wie es seine Stimme veränderte. ›Mädels können manchmal so dumm sein‹, sagte er und … und lachte.
Wieder hämmerte mir das Herz in der Brust, und in meiner Angst tat ich mein Bestes, weitere Mutmaßungen über das Feuerzeug anzustellen, größtenteils wilde Spekulationen, die ich krampfhaft zu begründen versuchte. Schließlich sagte er: ›Gut, ich denke, du hast dir ein Erholungspäuschen verdient, meine süße Martine. Du hast schwer gearbeitet, und tatsächlich hast du dir noch mehr verdient: noch einen Tag!‹ Er machte es sich im Sessel bequem, wo er immer noch schläft. ›Und Daddy muß auch mal ein Nickerchen machen. Stell ja keine Dummheiten an.‹
Dann war er fort, oder wenigstens bewegte sich der Sim nicht mehr. Es ist möglich, daß er wirklich offline gegangen ist, um zu schlafen oder andere Sachen zu machen, aber genausogut kann er einfach in Quan Lis Körper schlafen wie ein grauenhafter Parasit.
Kann es sein, daß er die ganze Zeit, diese ganzen Wochen über, der einzige in dem Sim gewesen ist? Es ist schwer vorstellbar, daß er jemand anders vertraut, aber wenn nicht, wie lebt er dann? Wo befindet sich sein realer, physischer Körper?
Diese Fragen sind im Augenblick nicht zu beantworten, und ich bezweifle, daß ich lange genug leben werde, um die Wahrheit zu entdecken, aber ich habe einen Tag gewonnen – das Monster braucht mich noch. Wobei mir wieder mein eigener Körper einfällt, in meiner heimischen Höhle von Mikroautomaten versorgt, durch Berggestein genauso vollkommen vom Rest der Welt getrennt, wie ich hier durch das Netzwerk davon getrennt bin. Und was ist mit den anderen, Renie, !Xabbu und den übrigen, und mit ihren Körpern? Was ist mit ihren Hütern, Jeremiah und Renies Vater, die genau wie ich in einem Berg gefangen sind, aber sich nicht einmal damit trösten können, sich selbst dafür entschieden zu haben?
Seltsam, mir klarzumachen, daß ich Freunde habe. Ich habe Kollegen und Liebhaber gehabt – manchmal wurde aus einem das andere –, aber ich habe mich immer geschützt, mit dem Berg und mit anderen Mitteln. Jetzt, wo sich alles verändert hat, ist das bedeutungslos geworden, denn sie sind für mich unerreichbar und ich für sie.
Gott scheint einen ziemlich schwarzen Humor zu haben. Oder wer auch immer.
Code Delphi. Hier aufhören.«
> Es war gleichgültig, was er machte oder wohin er ging oder wie angestrengt er vorgab, nicht daran zu denken. Er dachte daran. Er wartete darauf.
Die Netfeed-Nachrichten flackerten über den winzigen Konsolenbildschirm, eine endlose Folge von Katastrophen und Beinahe-Katastrophen. Selbst in seinem isolierten Zustand konnte er sich nur schwer dem Eindruck verschließen, daß es draußen in der Welt immer schlimmer zuging: Es gab beängstigende Meldungen von wachsenden chinesisch-amerikanischen Spannungen sowie von einer befürchteten Mutation des Bukavuvirus, die sich noch
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