Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
sein Rücken völlig ungedeckt wäre und er ständig über Leichen treten müßte. Er wußte, daß er sich unter solchen Umständen keine Minute mehr halten konnte. Als letzte Möglichkeit wollte er versuchen, das stumme Scheusal zu erwürgen, und so täuschte er trotz seiner bleischweren Glieder einen Angriff an, rollte dann unter dem prompten Erwiderungsschlag nach vorn und warf sich gegen den gepanzerten Bauch. Da er in solchem Nahkampf sein Schwert nicht zum Einsatz bringen konnte, ging er das Risiko ein, es fallenzulassen, und legte die Hände um den lappigen Hals des Schildkrötenmannes, bevor es diesem einfiel, ihn zwischen Keule und Panzer zu zerdrücken. Als die Daumen die Stelle fanden, wo die Luftröhre sein mußte, bäumte sich sein Gegner auf, aber die Haut war zu dick: Orlando tat ihm weh, doch er konnte die ledrige Kehle nicht zupressen. Das Scheusal rammte ihm einen Arm gegen den Hals und drückte seinen Oberkörper nach hinten, damit es ihm den Schädel einschlagen konnte.
Abermals ging eine kreischende dunkle Wolke nieder und umschwirrte die Kämpfer mit pelzigen Flügeln und scharfen Krallen, aber Orlando, der unter dem Druck des schwieligen Armes nach Luft rang, war es ohnehin schon schwarz vor Augen. Eine der geflügelten Schlangen löste sich aus dem Schwarm und wand sich um seinen Kopf, und der schmähliche Tod schien ihm endgültig sicher zu sein. Aus reinem Rachereflex heraus nahm er keuchend eine Hand von der Kehle des Schildkrötenmannes, riß die Schlange weg und stieß sie seinem Feind in das zerschmetterte Auge.
Der Schildkrötenmann hörte augenblicklich zu drücken auf und taumelte mit den Armen fuchtelnd zurück, doch die Schlange hatte sich schon halb in seinen Schädel gefressen, und nur der peitschende Schwanz schaute noch heraus. Er ließ die Keule fallen und stürzte zu Boden, und sofort hob Orlando mit der kampftüchtigen Hand sein Schwert auf, nahm die andere Hand dazu, in die jetzt kribbelnd das Gefühl zurückkehrte, und stieß der Kreatur mit seinem ganzen Gewicht die Spitze in die Kehle.
Der Schildkrötenmann starb nicht schnell, aber er starb.
Orlando hatte sich gerade auf die Knie hochgestemmt und schnappte nach Luft, obwohl er das sichere Gefühl hatte, nie, nie wieder genug davon in seine brennenden Lungen bekommen zu können, als er hörte, wie Fredericks weiter vorn im Tempel seinen Namen schrie. Er richtete sich ganz auf und wankte auf den zertrümmerten Eingang zu. Überall um ihn herum wurden Unschuldige massakriert, aber in seiner verzweifelten Eile benutzte er sein Schwert nur, um geflügelte Schlangen wegzuschlagen und grapschende Hände und Klauen von seinen Knöcheln loszumachen. Dennoch brauchte er lange Minuten, um seinen erschöpften Körper durch den Tempel zu schleifen, ein Weg durch den schlimmsten Winkel der Hölle.
Der Kampf der Giganten am Eingangstor war langsamer geworden, aber keineswegs vorbei. Die Göttin im Pantherfell lag mit schauderhaft verdrehten Armen und Beinen zerschmettert an einer Wand, über sich ihren zerbrochenen Speer, doch der Sphinx zog jetzt ein Vorderbein nach und hatte am ganzen Leib Schnitt- und Stichwunden, aus denen statt Blut Sand quoll. Der Gott Reschef hatte Saf seine Hörner in die Seite gebohrt; kleine Blitze knisterten dort und schwärzten die rotgelbe Haut. Der stierköpfige Month, der seinerseits aus vielen Wunden blutete und dem beide Augen zugeschwollen waren, umklammerte mit seinen mächtigen Armen den Hals des Sphinx.
Als Orlando das schlimmste Gemetzel hinter sich hatte und auf die freie Fläche trat, wo der bedrängte Sphinx alles zermalmt hatte, was ihm zu nahe gekommen war, sah er etwas, das ihn den heroischen Kampf des Tempelwächters augenblicklich vergessen ließ.
Zwischen den verbogenen bronzenen Angeln, die einst die großen Torflügel getragen hatten, standen Tefi und Mewat. Der aufgedunsene Kobramann hielt eine kleine, zappelnde Gestalt in der Hand; sein geierköpfiger Kumpan untersuchte sie, als dächte er daran, sie zu kaufen.
»Orlando!« Fredericks’ Schrei wurde von Mewats plumpen, schuppigen Fingern mit einem Schnipsen abgeschnitten. Orlandos Freund sackte ohnmächtig im Griff des Kobramannes zusammen. Angst wehte Orlando an wie ein eisiger Winterwind.
Tefi blickte auf, und der Schnabel verzog sich zu einem scheußlichen Grinsen.
»Bürger«, schnarrte er. Es klang wie ein ganz besonderer Leckerbissen. »Schau dir das an, Bruderherz, nicht bloß ein Bürger, sondern zwei! Obwohl alle
Weitere Kostenlose Bücher