Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
kam einfach nicht darauf. Sie beschloß, die Nachrichten später herunterzuladen, und klickte den Flasher weg. Bei der mehrmaligen Lektüre des Todesvermerks, in dem auch erwähnt war, daß Wulgaru keine lebenden Angehörigen mehr hatte, war ihr plötzlich ein neuer Gedanke gekommen, den sie auf keinen Fall wieder verlieren wollte.
Calliope hatte eine tiefe Abneigung gegen den Begriff »Intuition«, der ihrer Erfahrung nach meistens dann herhalten mußte, wenn ein Polizist, der beim Rest des Dezernats nicht gut angeschrieben war, gute Arbeit leistete, und mehr noch eine Polizistin. Was zum Teufel war Intuition denn schon? Im Grunde ein Raten auf gut Glück, und ein erstaunlich großer Batzen der Polizeiarbeit war seit jeher nichts anderes. Man mußte erst die Tatsachen haben, doch um einen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen, brauchte man in der Regel jenes Auge für subtile und doch bekannte Muster, das alle guten Gesetzeshüter nach einer Weile entwickelten.
Aber Calliope mußte wenigstens vor sich selbst zugeben, daß sie manchmal einen Schritt weiter ging und Ahnungen hatte, deren Faktenbasis so hauchdünn war, daß sie sie Stan nicht einmal erklären konnte. Das war einer der Gründe, weshalb sie viel mehr Wert auf Unmittelbarkeit legte als er: Wenn irgend möglich mußte sie Sachen anfassen, beriechen. Und gerade jetzt hatte sie eine solche Ahnung.
Sie sah sich die Bilder des Verdächtigen noch einmal an – drei, jedes auf seine Art völlig unbrauchbar. Das zur Jugendamtsakte gehörige Foto zeigte einen Jungen, dem man die Aborigineherkunft an der dunklen Haut und den kleinlockigen Haaren deutlich ansah, aber mit unerwartet hohen Backenknochen und wachsamen Augen, die einen ausgeprägten asiatischen Schnitt hatten. Darüber hinaus verriet die Aufnahme wenig. Sie hatte oft genug mißbrauchte Kinder gesehen, um den Blick zu kennen – zu, undurchdringlich wie eine Mauer. Ein Kind voller Geheimnisse.
Das einzige noch existierende Verbrecherfoto von ihm, geschossen bei seiner Internierung als junger Erwachsener, war noch weniger zu gebrauchen. Durch irgendeinen technischen Defekt, der damals unbemerkt geblieben war, hatte sich die Brennweite der Kamera leicht verstellt, so daß das Gesicht verschwommen war – es sah aus wie eines der nicht ganz gelungenen Experimente aus den Anfangstagen der Fotografie. Nur ein gläubiges Gemüt konnte die schattenhafte Erscheinung (mit am unteren Rand aufgedruckter Karteinummer) mit dem steinern blickenden kleinen Jungen des ersten Bildes in Verbindung bringen, und kein Zeuge der Welt hätte von der dargestellten Person mehr identifizieren können als die Hautfarbe und die ungefähre Kopf- und Ohrenform.
Das letzte Foto stammte aus Doktor Jupiter Danneys Unterlagen, doch auch hier hatte es der Zufall gewollt, daß John Wulgarus wahres Aussehen ein Geheimnis blieb. Das Bild war über die Schulter eines dunkelhaarigen Mädchens aufgenommen worden – Calliope wurde den Gedanken nicht los, es könnte sich um Polly Merapanui handeln, aber Danney hatte sich nicht erinnern können, und die Aufzeichnungen enthielten keinerlei Hinweis –, doch der junge Mann schien sich genau im Moment der Aufnahme bewegt zu haben. Statt eines Gesichts sah man nur einen verwischten Fleck mit einem wild glitzernden Auge und einer Masse dunkler Haare, alles andere war zerlaufen wie ein Traumbild, als ob ein dämonisches Wesen fotografiert worden wäre, als es sich gerade in Luft auflöste.
Erzteufel, hatte die Frau des Pfarrers gesagt. Erzteuflischer Teufel.
Wie lachhaft melodramatisch der Gedanke auch war, er jagte ihr dennoch einen kalten Schauder über den Rücken, und einen Moment lang glaubte sie beinahe, nicht die einzige Person in der winzigen Wohnung zu sein. In barschem Ton befahl sie dem System, die Jalousien zu schließen; obwohl sie sich deswegen über sich selbst ärgerte, wollte sie auf einmal das Gefühl haben, geschützt zu sein.
Calliope schaltete auf das Jugendamtsbild zurück, auf den Jungen mit dem Gesicht wie ein Haus mit verschlossenen Türen und Fenstern. Der kleine Johnny. Johnny Dark.
Wenn man einmal darüber gestolpert war, war es eigentlich unübersehbar, aber sie hätte sich schwergetan zu erklären, wo die Idee herkam oder, wichtiger noch, was diese Intuition, auch wenn sie sich als richtig herausstellte, ihrer Meinung nach bewies. John Wulgarus Mutter gab an, er sei von einem Mann gezeugt worden, der in der Jugendgerichtsakte als »philippinischer Bootsarbeiter
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