Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Leben sein? überlegte sie. Das Pad meldete sich wieder, diesmal mit einem zweiten Ton, dem Dringlichkeitssignal. Sie merkte, wie ihr Herzschlag sich leicht beschleunigte. Sie glaubte, ziemlich sicher zu wissen, wer dran war.
Er sendete kein Bild, aber seine Stimme war auch mit der leichten Verzerrung unverkennbar. »Ich muß mit dir reden.«
Sie beruhigte den jagenden Puls, so gut sie konnte. Wieso hatte er diesen Effekt auf sie? Es war wie ein Pheromoneinfluß, nur daß Pheromone nicht über Satellitenverbindungen von Kolumbien nach New York wandern konnten, wie eine unterschwellige Einwirkung, die ihr das Gefühl gab, von einem an ihr interessierten männlichen Wesen verfolgt zu werden, obwohl äußerlich keinerlei Anzeichen dafür zu erkennen waren. Was es auch sein mochte, sie verstand es nicht, und es war ihr auch nicht nur angenehm.
»Ich bin grade auf der Straße.« Sie konnte nicht davon ausgehen, daß er an seinem Ende ein Bild empfing. »Ich hab dich auf meinem Pad.«
»Ich weiß. Geh nach Hause. Ich muß jetzt sofort mit dir reden.«
Die Stimme war kalt, und Dulcy ärgerte sich über den Befehlston – einer ihrer frühen Stiefväter hatte diese Papastimme mit ihr probiert und war dafür von ihr mit ewiger Verachtung gestraft worden. Aber sie fühlte auch eine andere, eine versöhnlichere Reaktion. Er war schließlich ihr Auftraggeber. Er war ein Mann, der Männer als Gegenüber gewohnt war, dumme Männer oder wenigstens Männer von einem Schlag, den man nach ihrer Erfahrung allerdings herumkommandieren mußte. Und war da nicht ein Unterton echter Dringlichkeit in seiner Stimme, ein innerer Druck, den er sie nicht merken lassen wollte? Hatte er deshalb das Bild schwarzgestellt?
»Na ja, du hast mich wahrscheinlich davor bewahrt, einen Haufen Geld auszugeben«, sagte sie in möglichst lockerem Ton. Die kleinen Bauarbeiter im Galeriefenster versuchten gerade, eine Stahlnadel um eine S-Kurve in ihrer Pipette zu manövrieren, ein Kunststück, das sie niemals vollbringen konnten, und dennoch gaben sie nicht auf; sie hatte den Eindruck, wenn sie am anderen Tag wieder herkäme, würden sie sich immer noch an derselben Kurve mit derselben Nadel abrackern, immer noch ohne Erfolg. »Ich wäre fast der Versuchung zu einem richtigen Großeinkauf erlegen …«
»Ich ruf dich in dreißig Minuten an«, sagte er und war weg.
Der Handleser draußen an der Haustür war noch langsamer als der an ihrer Wohnungstür. Das Ding war aberwitzig alt und eine Plage bei kaltem Wetter, wenn man den Handschuh ausziehen mußte, um es zu bedienen.
Während sie sich mit ihren Einkaufstüten durch die Tür quälte, rief ihr jemand einen Gruß zu. Sie hob den Kopf und sah gerade noch, wie der Mann mit der hochkünstlerischen Frisur, der auf Charlies Etage ein paar Türen weiter wohnte, ihr fröhlich zuwinkte, bevor die Fahrstuhltür zuzischte.
Arschloch. Hätte er sich nicht denken können, daß ich mitfahren will?
Immer wenn sie über das Leben nachgrübelte, das sie sich ausgesucht hatte – am Freitagabend schnell schnell nach Hause, nicht um sich ausgehfein zu machen, sondern um einen Anruf von einem internationalen Terroristen entgegenzunehmen –, kam ihr der Gedanke, wie sehr es ihrer Mutter gefallen würde, wenn sie statt dessen mit einem wie diesem Fahrstuhlwinker anbändeln würde, und sofort rückten sich die Dinge zurecht. Die Sorte kannte sie nur zu gut. Persönliche Freiheit wäre ganz groß geschrieben, solange es um seine Bedürfnisse ging – oh, er würde nur so um sich schmeißen mit unkonventionellen Sprüchen! –, aber ganz anders sähe die Sache aus, wenn Leute über ihm ein lautes Fest feierten und er arbeiten wollte oder wenn sie irgendwo hingehen wollte und er nicht.
Dulcy wartete auf den Fahrstuhl und haßte einen Mann, mit dem sie noch nie ein Wort gewechselt hatte.
Andererseits, dachte sie, als sie auf ihrer Etage ausstieg, was für Sorten Männer lernte sie sonst schon kennen? Sie arbeitete zuviel, selbst wenn sie unterwegs war, und wenn sie nach New York zurückkam, brachte sie kaum je die Energie auf, abends wegzugehen. Wen hatte sie denn schon zur Auswahl? Verbrecher und Nachbarn!
Selbst jemand wie Dread, jemand, der wenigstens interessant war – wie sollte man mit so jemandem eine Beziehung haben? Es war bescheuert. Selbst wenn es irgendwie gefunkt hätte, selbst wenn ihre undefinierbaren Gefühle irgendwie erwidert würden, was könnte es für eine Zukunft geben?
Andererseits hatte
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