Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Spinnen vorzuschreiben, wie sie die Mutter ehren sollen?«
»Ich glaube, das solltest du lieber nicht tun, Saufaus«, sagte Viticus milde, aber der Bandit war so empört, daß er den Hauptmann, dessen Ehre er verteidigte, gar nicht beachtete. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. »Ich puste diesen kleinen Lackaffen ein für allemal aus dem Haus raus …!«
Auf eine kleine Geste von Kunohara hin loderten Saufaus’ Arme urplötzlich auf. Kreischend und um sich schlagend fiel er zwischen seinen Kumpanen zu Boden, die hastig zurückwichen, so daß augenblicklich ein rasch größer werdender Kreis um ihn herum entstand. Kunohara schwenkte den Finger, und die Flammen waren fort. Der Räuber lag zusammengekrümmt neben seinem vergessenen Schießgewehr, rieb sich die Unterarme und weinte.
Kunohara lachte still vor sich hin. »Manchmal ist es gut, einer der Götter von Anderland zu sein.« Er hörte sich immer noch ein bißchen betrunken an.
»Können wir gar keinen von ihnen nehmen?« erkundigte sich Viticus.
Kunohara musterte Renies Begleiter. Emily weinte. T4b, fürs erste gerettet, war vor dem Fenster auf die Knie gesunken. »Der Mönch?« sagte der Harlekin halb sich zu selbst. »Er ist schließlich keiner von euch«, gab er Renie zu bedenken. »Er ist … na ja, du weißt, was ich meine.«
Renie war entrüstet, obwohl er formal natürlich recht hatte. »Bruder Factum Quintus hat genauso das Recht zu leben wie wir, ob er nun …« Sie stockte. Sie hatte sagen wollen, ob er nun ein richtiger Mensch ist oder nicht, aber merkte noch rechtzeitig, daß diese Äußerung weder besonders freundlich noch besonders klug wäre. »Egal«, sagte sie statt dessen. »Er ist einer von uns.«
Kunohara drehte sich zu Viticus um und zuckte mit den Achseln.
»Tja, dann«, seufzte der Weiße Fürst. »Grapsch?«
Der Hüne bückte sich und hob den wimmernden Saufaus vom Boden auf. Er machte einen Schritt zur Seite, um an T4b vorbeizukommen, dann stemmte er den Unglücklichen, der vor fassungslosem Grauen laut aufheulte, als er begriff, was geschehen sollte, in die Höhe und wuchtete ihn durch das Buntglasfenster, das in tausend Scherben zerbarst.
Der sekundenlang schallende Schrei wurde immer leiser und brach dann jäh ab. In der anschließenden Stille rutschten noch ein paar Glassplitter aus dem Rahmen und klirrten zu Boden.
»Ich danke dir, Mutter, für alles, was du mir gegeben hast«, sagte Viticus und verbeugte sich vor der Statue aus Glasscherben. Er bückte sich, pickte mit seinen langen Fingern die Stücke auf, die aus dem zerschmetterten Fenster geflogen waren, und warf sie der Statue in den Schoß. Einen Moment lang schien sie ein wenig anzuschwellen, eine Täuschung durch den flackernden Feuerschein.
Zu Tode erschrocken über den brutalen Mord merkte Renie auf einmal, wie der kalte Raum noch kälter wurde, obwohl der Wind sich nicht erhoben hatte. Etwas veränderte sich, alles verschob sich irgendwie zur Seite. Zuerst meinte sie, wieder einen der bizarren Realitätsaussetzer zu erleben wie unlängst, als sie Azador auf dem Fluß verloren hatten, aber statt daß die ganze Welt zum Stillstand kam, wurde nur die Luft dichter und kälter, zäh wie Nebel. Auch das Licht veränderte sich, es schien sich zu strecken und alles viel weiter weg zu rücken. Einige der Banditen schrien vor Furcht, doch ihre Stimmen waren fern. Renie hatte das Gefühl, die Statue der Mutter werde jeden Augenblick zum Leben erwachen, von ihrem Sockel heruntersteigen, knirschend die Klauen spreizen …
»Das Fenster!« ächzte Florimel. »Seht doch!«
Genau an der Stelle, wo nur Sekunden vorher Saufaus in den Tod gestürzt war, nahm etwas Gestalt an, so als ob das Buntglas wieder über das dunkle Loch wachsen wollte. Aus einem bleichen Fleck in der Mitte schälte sich der rohe Umriß eines Gesichts heraus. Gleich darauf wurde es klarer, und man sah das schwache, verwischte Bild einer jungen Frau mit blind starrenden schwarzen Augen.
»Die Madonna …«, schrie jemand aus der Menge hinter Renie. Alle Geräusche waren verzerrt – es war nicht zu sagen, ob die Worte Freude oder Entsetzen ausdrückten.
Das Gesicht bewegte sich auf der milchigen Fläche, die den Rahmen ausfüllte, wie gefangen glitt es von einer Ecke in die andere. »Nein!« sagte es. »Ihr macht mir Albträume!«
Renie spürte, wie !Xabbu sich an sie klammerte, doch obwohl sein Kopf ganz dicht neben ihrem war, konnte sie nichts sagen, sowenig wie sie den Blick von der Ahnung
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