Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
originelle Schöpfung.«
»Es wird dir fehlen?« sagte Renie verwundert. »Wie das?«
Kunohara gab keine Antwort. Der Trupp von Räubern und Gefangenen bog jetzt in einen anderen Gang ein, der genauso leer war wie der erste, aber von oben trübe beleuchtet wurde. Im Dach befindliche Oberlichter aus einem blaueren und weniger durchlässigen Material als gewöhnliches Glas verwandelten den verlöschenden Sonnenschein in ein Licht wie auf dem Grund des Meeres.
»Werden sie uns umbringen?« fragte Renie Kunohara. Er erwiderte nichts. »Wirst du das zulassen?«
Er blickte sie einen Moment lang an. Etwas von der Schärfe, die sie bei der ersten Begegnung an ihm bemerkt hatte, war fort, vielleicht durch mehr als bloß Alkohol abgestumpft. »Daß ihr noch hier seid, bedeutet, daß ihr irgendwie Teil der Geschichte seid«, sagte er schließlich. »Auch wenn das für mich nicht gilt, gebe ich zu, daß es mich interessiert, wie sie ausgeht.«
»Was soll das heißen?« Renie verlor langsam die Geduld.
Kunohara lächelte nur und verlangsamte seinen Schritt, so daß Renies Teil der Kolonne an ihm vorbeizog.
»Was hat er damit gemeint?« flüsterte Renie !Xabbu zu. »Geschichte? Wessen Geschichte?«
Auch ihr Freund blickte versonnen vor sich hin. »Ich muß nachdenken, Renie«, erklärte er. »Es ist seltsam. Dieser Mann könnte uns viel sagen, wenn er nur wollte.«
»Viel Glück.« Renie zog ein finsteres Gesicht. »Er ist ein Spieler. Ich kenne die Sorte. Er genießt es, der einzige zu sein, der Bescheid weiß.«
Der Wortwechsel wurde von Bruder Factum Quintus unterbrochen, der sich zwischen den anderen Gefangenen vorgedrängelt hatte, bis er bei Renie und !Xabbu angelangt war. »Hier bin ich noch nie gewesen«, sagte er staunend. »Diesen Gang habe ich noch auf keinem Lageplan gesehen.«
»Lageplan!« Hinter ihnen gestattete sich Saufaus ein glucksendes Auflachen. »Hör sich einer das an! Lageplan! Als ob die Spinnen einen Lageplan bräuchten! Sämtliche Dachspeicher sind unser.« Dann schmetterte er in den falschesten Tönen los:
»Wer ist’s, der im Dunkeln harrt
Und webt Netze hauchfeinzart,
Doch für Opfer stahlseilhart?
Beugt euch vor den Spinnen!«
Andere betrunkene Stimmen fielen ein. Als sie in den nächsten dunklen Flur einbogen, sang die halbe Schar aus voller Kehle, schlug dazu die Waffen aneinander und machte im ganzen einen Radau wie ein Karnevalsumzug.
»Frisch geraubt, wenn’s keiner sieht,
Nur das Süße, Bittres nicht.
Jeder Gegner wird vernicht’.
Beugt euch vor den Spinnen!«
An den Wänden des blau erleuchteten Ganges hingen stattliche Spiegel in schweren Rahmen, jeder übermannshoch und mit einem staubigen, fadenscheinigen Tuch verhängt, durch das die reflektierten Laternen der Banditen noch ganz schwach zu sehen waren. Factum Quintus beugte sich vor und verdrehte seinen langen Hals, um diese Sehenswürdigkeiten genauer betrachten zu können. »Es ist der Gang der verhüllten Spiegel«, sagte er schließlich atemlos. »Ein Mythos, dachten viele. Wunderbar! Ich hätte nie gedacht, daß ich ihn je zu Gesicht bekommen würde!«
Renie verkniff es sich, ihn darauf hinzuweisen, daß der Gang womöglich eines der letzten Dinge war, die er im Leben zu Gesicht bekommen würde.
Eine träge Stimme rief aus den hinteren Reihen: »Keine Überstürzung, wenn ihr eintretet, meine Mordbuben. Die gebotenen Formen wollen gewahrt werden.« Am Ende des Gangs mit seinen verhängten Spiegeln angelangt, blieben alle stehen; als Viticus nach vorn schritt, teilte sich seine Räuberbande und ließ ihn durch. »Wo ist Kunchen?« fragte er, als er an der Spitze des Zuges stand.
»Hier, Viticus.« Der Mann im Harlekinanzug löste sich aus der Menge. Er machte einen müden und geistesabwesenden Eindruck. Renie fragte sich, was das bedeuten mochte.
»Dann komm, mein Freund. Du wolltest doch sehen, wie wir die Mutter ehren, nicht wahr?« Der blasse Anführer trat mit Kunohara an der Seite durch die Tür am Ende des Flures.
Renie und die anderen waren jetzt zwischen den ungewaschenen Banditen eingekeilt, die sie schadenfroh pieksten und stupsten. »Meinst du, Kunohara wird uns beschützen?« fragte Florimel leise. Renie konnte nur mit den Achseln zucken.
»Ich weiß nicht, was er tun wird. Ein merkwürdiger Kerl. Vielleicht sollten wir …«
Sie bekam ihren Satz nicht zu Ende. Wie auf Kommando stürmte die ganze Räuberschar plötzlich durch die Tür und riß Renie und die anderen mit. Nachdem
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