Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Papa.
Das sprachlos sprechende, abwesend anwesende Etwas, das eigentlich nichts weiter als ein rational nicht zu erklärendes Wissen war, sagte nichts, aber plötzlich sah er die Wahl, vor der er stand.
Ich kann zurückkehren und Abschied nehmen …, sagte er langsam oder hätte es gesagt, wenn es Worte zu sprechen, Töne zu hören gegeben hätte. Ich kann zurückkehren und sie nochmal sehen, bevor ich sterbe – aber damit verlasse ich meine Freunde, stimmt’s? Ich verliere Fredericks und Renie und Bonnie Mae und die andern …
Er fühlte, wie die Frage stumm bejaht wurde. Es stimmte.
Und ich muß jetzt wählen?
Keine Antwort, aber es war auch keine nötig.
Während er die schattenhaften Formen anblickte, überkam ihn eine furchtbare Einsamkeit. Wie sollte er es fertigbringen, nicht zurückzukehren, und sei es nur für eine letzte Berührung, einen letzten Blick in das Gesicht seiner Mutter, bevor die Tür ins Dunkel sich endgültig öffnete? Aber Fredericks und die ganzen Kinder, die armen, verlorenen Kinder …
Die Zeit, die er anfangs im Kampf gegen die Finsternis zugebracht hatte, war nichts im Vergleich zu der, die jetzt verstrich, während er zwischen zwei Welten hing, vor einer diffizileren und schwereren Wahl als schlicht zwischen Leben und Tod. Es war eine unmögliche Entscheidung, aber sie ließ sich nicht umgehen. Es war das Schrecklichste, was er sich vorstellen konnte.
Aber zuletzt wählte er …
Es dauerte eine Weile, ehe Orlando begriff, daß er jetzt träumte, einfach träumte. Zuerst schienen das eigenartige gefilterte Licht und die verschwommenen Gestalten eine Fortsetzung der Szene vorher zu sein, doch dann lichtete sich der Nebel, und er starrte auf … einen Bären. Das Tier saß auf dem Hinterteil auf nassem grauen Beton, die gepolsterten ledrigen Sohlen von sich gestreckt. Ein nahezu weißer Kragen am Hals bildete einen erstaunlichen Kontrast zum restlichen schwarzen Pelz.
Etwas prallte von der Brust des Bären ab. Er schnappte zu, doch die Erdnuß war schon heruntergefallen und sprang in den Betongraben, wo er sie nicht erreichen konnte. Die Augen des Bären war so abgrundtief traurig, daß Orlando wieder weinen mußte, obwohl es ein Traum aus ferner Vergangenheit war. Conrads Kopf erschien am Rand seines Gesichtsfeldes und spähte durch das Netz, mit dem seine Eltern ihn vor hellem Sonnenlicht und neugierigen Blicken schützten.
»Was ist los, mein Schatz? Macht der Bär dir Angst? Er heißt Malaienbär – sieh nur, er ist ganz freundlich.«
Auf der anderen Seite bewegte sich etwas. Viviens Hand kam durch das Netz und nahm seine Finger, drückte sie. »Schon gut, Orlando. Wir können woanders hingehen. Wir können uns auch andere Tiere anschauen. Oder bist du müde? Willst du nach Hause?«
Er versuchte, die richtigen Worte zu finden, aber der sechsjährige Orlando – viel zu alt für einen Kinderwagen, wenn er ein normaler Junge gewesen wäre, aber wegen seiner zerbrechlichen Knochen und sofort überstrapazierten Muskeln dazu verurteilt, in einem zu sitzen – war unfähig gewesen, die tiefe Traurigkeit des Bären zu erklären. Selbst in dieser Traumversion konnte er sie seinen Eltern nicht begreiflich machen.
Jemand warf abermals eine Erdnuß. Der Bär haschte mit den Tatzen danach und hätte sie beinahe erwischt, doch die Erdnuß glitt von seinem Bauch ab und in die Grube. Der Bär blickte ihr kummervoll hinterher, dann sah er wieder auf und wartete mit wiegendem Kopf auf den nächsten Wurf.
»Boß?« sagte jemand. Orlando sah nach unten. In seiner knochigen kleinen Hand hatte er eine geschälte Erdnuß, die er sich nicht zu werfen getraute, weil er befürchtete, es nicht einmal über den Graben zu schaffen, aber die Erdnuß bewegte sich. Winzige Beine waren an den Seiten gewachsen und wedelten lebhaft in der Luft. »Boß, kannst du mich hören?«
Er starrte sie an. Vivien und Conrad redeten immer noch mit ihm und fragten ihn, ob er die Elefanten sehen wolle oder vielleicht etwas Kleineres und nicht so Erschreckendes, die Vögel zum Beispiel. Orlando wollte sie nicht verlieren, wollte nicht verpassen, was sie sagten, aber das Zappeln der Erdnuß lenkte ihn ab.
»Boß? Kannst du mich hören? Red mit mir!«
»Beezle?«
»Ich verlier dich, Boß! Sag was!«
Die Erdnuß, die Stimme der Erdnuß, seine Eltern, der Malaienbär mit dem weißen Kragen, alle begannen sie zu verblassen.
»Beezle? Meine Eltern, sag ihnen … sag ihnen …«
Aber der Traum hatte sich in Luft
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