Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
warteten, ihren Besuch machen zu dürfen, oder nach einem solchen Besuch um Fassung rangen, dann sah man die Wahrheit. Dagegen machte das muntere Dekor den Eindruck, daß es ein Zeichen von Undankbarkeit wäre, diesen Schmerz oder diese Angst auszudrücken. Spiel mit! schienen die Teddybärlampen und die auf dem Wandbildschirm tollenden Comicfiguren zu mahnen. Immer lächeln! Bloß nichts Falsches sagen!
Wenn das die angestrebte Wirkung war, dann ging sie an Vivien Fennis und Conrad Gardiner vorbei.
»Es ist so … so hart.« Mit der Achtlosigkeit einer Verhungernden, die eine Fliege verscheucht, strich sich Vivien eine Haarsträhne aus den Augen. »Wir wußten, daß es passieren würde. Wir wußten, daß es nur eine Frage der Zeit sein konnte – Kinder mit Progerie leben einfach nicht sehr lange. Aber man kann nicht das ganze Leben in Wartestellung verbringen.« Sie starrte auf ihre Hände, kämpfte gegen den Zorn an. »Man muß weitermachen, als ob … als ob …« Tränen kamen, und ihr Zorn schien sich gegen sie selbst zu richten, als sie sich die Augen wischte. Ihr Mann blickte sie nur an, als säße er in einem Glaskasten und wüßte, daß es sinnlos war, die Hand auszustrecken.
»Es tut mir sehr leid.« Ramsey streckte ebenfalls nicht die Hand aus und reichte ihr auch nicht die Schachtel mit Papiertüchern, die mitten auf dem Tisch stand. Es wäre ihm wie eine Beleidigung vorgekommen.
»Es ist sehr freundlich, daß du vorbeikommst«, sagte Vivien schließlich. »Leider – bitte entschuldige – ist es uns im Moment einfach nicht so wichtig. Gib uns bitte trotzdem nicht auf. Später werden wir bestimmt einen Sinn dafür haben, wenn … wenn wir wieder für andere Sachen zugänglich sind.«
»Hast du jemand gefunden, den wir verklagen können?« Conrad Gardiners Witz war so gräßlich hohl, so bitter, daß Ramsey sich innerlich wand.
»Nein, eigentlich nicht. Aber … aber ich bin auf ein paar merkwürdige Dinge gestoßen.« Es war höchste Zeit, daß er ihnen von Beezle erzählte, das wußte er. Wahrscheinlich war ihr Sohn nicht mehr zu retten – wenn man sich den Jungen ansah, war etwas anderes kaum vorstellbar –, aber wie konnte er sie der Gelegenheit berauben, mit ihm zu kommunizieren? »Mir ist aufgefallen, daß Orlando seine Neurokanüle noch hat«, sagte er, um das Thema irgendwie anzuschneiden.
»O ja, das bringt die Ärzte auf die Palme.« Vivien gab einen kurzen, rauhen Lacher von sich. »Sie sind ganz versessen drauf, sie wieder rauszunehmen. Aber wir haben gesehen, was bei ihrem letzten Versuch passiert ist. Es war grauenhaft. Und selbst wenn es diesmal nicht wieder passieren würde, wozu das Risiko eingehen? Jedenfalls ist das Gehirn noch aktiv.« Sie schüttelte den Kopf über die Absurdität der Vorstellung. »Noch … Und wenn es ihm irgendwas gibt …«
Conrad stand so abrupt auf, daß sein Stuhl am Teppich hängenblieb und umkippte. Vivien setzte an, ebenfalls aufzustehen, doch ihr Mann winkte ab und wankte vom Tisch weg. Er irrte mehrere Sekunden lang ziellos umher, bis er vor einem Aquarium mit tropischen Fischen stehenblieb. Er lehnte sich mit dem Rücken zu ihnen an die Scheibe.
»Unsere eigenen Fische sind alle krank«, sagte Vivien leise. »Wir haben seit Wochen kaum das Aquarium saubergemacht. Wir haben überhaupt kaum etwas gemacht. Wir leben fast nur noch in diesem verdammten Krankenhaus. Aber es ist besser, als anderswo zu sein, wenn … wenn …« Sie schluckte schwer und verzog dann den Mund zu einem Lächeln, das Ramsey genausowenig anschauen konnte wie vorher Orlando. »Aber du tu bitte, was du tun mußt, in Ordnung? Also, was hast du uns zu sagen, Herr Ramsey? Warte nicht auf Conrad – ich erzähle ihm später alles Wichtige.«
Nun war also der unausweichliche Augenblick gekommen, wo er eigentlich das Geheimnis lüften mußte, aber Catur Ramsey erkannte plötzlich, daß er dieser tapferen, traurigen Frau nichts davon sagen wollte. Was hatte er ihnen schon zu bieten? Eine Geschichte, die für jeden schwer zu verstehen und zu glauben war, vor allem für die Eltern eines Jungen, der offensichtlich auf der Schwelle des Todes stand. Und gesetzt den Fall, er konnte sie überzeugen, daß Beezles unglaublich klingende Geschichte wahr war, daß der Softwareagent mit Orlando reden konnte, obwohl dieser im tiefsten Koma lag, und daß der Junge selbst irgendwie in einem anderen Universum gefangen war wie ein Flaschengeist – was wäre, wenn Beezle dann nicht wieder Kontakt
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