Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
aufgelöst, und Beezle und seine Eltern waren fort – so spurlos verschwunden, daß er sicher war, ein für allemal von ihnen gegangen zu sein.
Das diffuse Licht ließ alles nahezu grau erscheinen. Diesmal gab es nicht den automatischen Mutterschoß eines teuren Krankenhausbettes, keinen Blick aus der Engelsperspektive auf einen sterbenden Jungen, nur das wechselhafte Licht einer schwelenden Glut hinter einem durchsichtigen Stoff.
Draußen schwoll der Wind an, wie ungeduldig suchend. Die Unterlage, die er wahrnahm – eine Art Bett, aber rauh und unbekannt –, fühlte sich an wie ein Haufen Mäntel, so als hätte ihn jemand während einer Party seiner Eltern im Garderobenzimmer abgelegt und dann vergessen, ihn wieder zu holen.
Orlando versuchte sich hinzusetzen, aber selbst diese geringfügige Anstrengung ließ ihn beinahe in die Ohnmacht zurücksinken. Ein so starkes Schwindelgefühl überkam ihn, daß er sich erbrochen hätte, wenn es nicht zuviel Mühe gewesen wäre, wenn er noch etwas zu erbrechen gehabt hätte.
Schwach, dachte er. So schwach. Ich halt das nicht nochmal aus, oder? Noch eine Runde?
Aber er mußte. Er hatte gewählt. Wenn er seine letzten Momente mit Vivien und Conrad geopfert hatte, dann mußte es das auch wert sein. Er schloß die Augen und ließ die Ereignisse Revue passieren.
Wir waren im Tempel, entsann er sich. Und dieser … wie hieß er noch gleich? … dieser Osiris kam an und hat die Mauern eingerissen. Dann sind wir ins Hinterzimmer gelaufen, und irgendwas hat mich am Kopf getroffen. Bin ich durchs Gateway gekommen? Das einzige, woran er sich erinnerte, war Licht, ein Licht, das genauso geflackert hatte wie hier auf dem Stoff um sein Bett.
Er drehte langsam den Kopf zur Seite. Durch das dünne Tuch des Bettvorhangs sah er dunkle Wände: Er schien sich in einer roh gezimmerten Hütte zu befinden. Was er vom Dach sehen konnte, war trockenes Stroh. Holzkohle glühte in einem großen Becken nahe der hintersten Wand. Die Anstrengung, die es ihn kostete, den Kopf zu bewegen, erschöpfte ihn, und eine Zeitlang lag er nur da und betrachtete das Spiel des Feuers über der Glut.
Als ihm ein klein wenig die Kraft wiederkehrte, schob er sich nach oben, bis er etwas Weiches, Nachgebendes am Kopf fühlte. Er nahm sich zusammen und drückte sich mit Beinen ab, die nicht recht zu ihm zu gehören schienen, bis der Kopf auf die Rolle über ihm rutschte und nach vorn kippte, so daß er sehen konnte, was sich vor ihm befand.
Die Hütte war groß, mehrere Meter lang und fast völlig leer. Der Fußboden war gestampfte Erde; an den unteren Rändern drang Licht ein. Ein eleganter Henkelkrug stand nahe bei ihm am Boden, und daneben lag ein zusammengerolltes Kleiderbündel. Die einzigen anderen Gegenstände im Raum standen gegenüber dem Kohlenbecken – eine sehr lange Lanze und ein paar etwas kleinere Speere, ein kurzes Schwert, das er noch nie gesehen hatte, aber das ihm unerklärlich bekannt vorkam, und ein mächtiger Rundschild, gelehnt an ein absonderliches Gebilde, das einer gestutzten Vogelscheuche glich.
Die menschenähnliche Gestalt war eine Rüstung aus funkelnder Bronze auf einem plumpen Ständer – eine Brustplatte, ein paar andere Stücke und ein Helm mit einem Roßhaarbusch obendrauf.
Orlando seufzte. Ein Krieger also. Natürlich.
Nach meinem Lächeln oder meinem Humor fragt nie einer, dachte er. Viel ist von beiden sowieso nicht mehr übrig.
Wo war er also? Es sah altertümlich aus, aber er war zu müde, um groß darüber nachzudenken. Troja? Hatten sie mit dem Gateway Glück gehabt?
Ein Schatten strich draußen vor der Hütte über den Schlitz am Fuß der Wand. Gleich darauf stieß ein Mann die Tür auf und trat ein. Er trug eine einfachere Rüstung als die auf dem Ständer, weichgekochtes Leder, mit Schnüren, Riemen und Spangen zusammengehalten, und eine Art Hemd, aus Lederstreifen geflochten. Er ging in der Tür auf ein Knie, das dunkle, bärtige Gesicht nach unten gerichtet.
»Verzeih, Herr«, sagte der Krieger. »Mehrere Männer wünschen mit dir zu sprechen.«
Orlando konnte nicht glauben, daß es so rasch schon wieder losgehen sollte. Wo war Fredericks? Bonnie Mae und die anderen? »Ich will niemand sehen.«
»Aber sie kommen vom stabführenden König, Herr.« Der Krieger, verdutzt von Orlandos Weigerung, war nervös, aber entschlossen, seinen Auftrag auszurichten. »Er schickt einen Boten, um dir zu sagen, daß die Hoffnung der Achäer auf dir ruht. Und Patroklos
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