Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
gemeint. Es ist bloß … es hat mich einfach gepackt. Ich muß der Sache auf den Grund gehen. Ich hoffe, wenn ich sie aufkläre, wird das … ich weiß nicht, dir und deinem Mann ein bißchen Frieden geben. Aber ich könnte nicht aufhören, mich damit zu beschäftigen, selbst wenn ich es wollte.«
Er spürte, daß er alles gesagt hatte, was er sagen konnte. Er stand auf und hielt ihnen die Hand hin. Conrad Gardiner faßte zögerlich zu, drückte kurz und ließ wieder los. Viviens Händedruck war nur geringfügig fester. Ihre Augen glänzten wieder, aber ihr Mund war ein harter Strich.
»Es liegt mir nichts dran, irgendwelche Leute zu verklagen«, sagte sie. »Solange sie nichts Unrechtes getan haben, heißt das, solange sie meinem Jungen nichts angetan haben. Aber es ist alles so undurchschaubar. Es wäre schön, ein bißchen Klarheit zu haben.«
»Ich werde versuchen, euch Klarheit zu verschaffen. Ganz bestimmt.«
Als er sich umdrehte und über den bunten, mit jungen Hunden und Katzen gemusterten Teppich zum Ausgang schritt, ließ sie ihren Mann am Tisch sitzen und begleitete ihn. »Weißt du, was das schlimmste ist?« fragte sie. »Wir waren darauf gefaßt, wirklich, jedenfalls soweit Eltern auf etwas derart Schreckliches und Ungerechtes gefaßt sein können. Wir haben seit Jahren damit gerechnet. Aber wir dachten immer, wir hätten wenigstens die Chance, Abschied zu nehmen.« Sie blieb abrupt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Als Ramsey zögerte, winkte sie ihm weiterzugehen und begab sich zu ihrem Mann zurück, der auf sie wartete, damit sie gemeinsam wieder in die fremde Welt des Leids eintauchen konnten, zu der normale Menschen keinen Zutritt hatten.
Ramsey nahm seinen eigenen, ganz anders gelagerten Schmerz mit, als er durch die Eingangshalle und hinaus auf den Parkplatz schritt.
> Es war schwer, aus der Dunkelheit wieder zurückzufinden, schwerer als je zuvor. Etwas hielt ihn fest, nicht brutal, aber mit einem Griff, der so elastisch und doch so unnachgiebig war wie ein zwischen den Sternen aufgespanntes Spinnennetz. Er kämpfte dagegen an, doch seine Fesseln strafften sich bloß, und seine ganze Energie verpuffte nutzlos; und trotzdem kämpfte er weiter, jahrhundertelang kam es ihm vor. Schließlich sah er ein, daß alles weitere Ringen sinnlos war. Wie lange konnte ein Mensch das Unvermeidliche abwehren? Ewig? Vielleicht jemand anders, aber er nicht.
Als er abließ, wurde es nicht finsterer um ihn herum, wie er erwartet hatte. Vielmehr fing die Dunkelheit selbst zu leuchten an, erwärmte sich fast unmerklich von äußerster Schwärze zu einem nordpoldunklen Dämmerviolett, einem Ton, den er nur fühlen, nicht sehen konnte. Dann sprach etwas zu ihm – keine Stimme und nicht in Worten, aber er verstand es und verstand auch, daß dieses Etwas von ihm verschieden war oder wenigstens verschieden von seinem denkenden Teil.
Du hast eine Wahl, sagte es.
Ich verstehe nicht.
Es gibt immer eine Wahl. Dieses Gesetz liegt allem zugrunde. Mit jeder Wahl erscheinen und verschwinden Universen – und mit jedem Hauch werden Welten zerstört.
Erklär’s mir. Ich versteh’s nicht.
Eine Stelle in der samtig violetten Dunkelheit wurde eine Idee heller, als ob sich dort der Stoff des Nichts verdünnte. Auf einmal erkannte er Formen, unerklärliche Rechtecke und Winkel, aber ihr schlichter Anblick erfüllte ihn mit neuem Lebenshunger.
Das ist deine Wahl, erklärte ihm sein stimmloser, wortloser Berater.
Als das unscharfe Bild deutlicher wurde, erkannte er, daß er von oben auf etwas hinabblickte. Zunächst überlegte er, ob es sich bei den Linien und seltsamen Formen um eine fremdartige Landschaft handeln mochte, doch dann lösten sich die dunklen und hellen Stellen in ein Gesicht auf, ein schlafendes Gesicht … sein Gesicht.
Krankenhaus, dachte er, und das Wort war wie etwas Eiskaltes und Hartes – ein Messer, ein Knochen. Da liege ich. Im Sterben. Seine Gesichtszüge, durch die Krankheit fast bis zur Unkenntlichkeit eingefallen und doch so grausam bekannt, schienen sich unmittelbar hinter einer beschlagenen Scheibe zu befinden. Warum zeigst du mir das?
Das gehört mit zu deiner Wahl, lautete die Antwort. Schau genauer hin.
Und jetzt sah er auch die gebückten, dunklen Gestalten neben dem Bett. Eine streckte eine schattenhafte Hand aus, um sein gefühlloses Gesicht – sein eigenes Gesicht! – zu berühren, und da wußte er, wer sie waren.
Vivien und Conrad. Mama und
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