Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
und aus ihr raus zu kommen.«
»Es gibt nicht einmal einen Hinweis darauf, welche Richtung wir einschlagen sollten«, fügte Florimel hinzu. »Es gibt keine Sonne, weder Morgen noch Abend, überhaupt keine Himmelsrichtungen. Wir haben nur deshalb zurückgefunden, weil ich eine Fährte aus zerbrochenen … na ja, Stöcken würde man vermutlich sagen … gelegt hatte.«
Wie Brotbröcklein, dachte Renie. Ist das nicht aus »Hänsel und Gretel«? Wir spielen in einem bescheuerten Märchen mit – nur daß unser Märchen, genau wie diese Welt, noch nicht fertig ist … und wir möglicherweise nicht zu denen gehören werden, die am Schluß nicht gestorben sind und heute noch leben. Zu den anderen sagte sie: »Wir hatten !Xabbus Nase und seinen Orientierungssinn, obwohl ich zugeben muß, daß ich ein wenig nervös war – für mich sieht es überall gleich aus.«
»Habt ihr was zu essen gefunden?« fragte Emily. »Ich hab total Hunger. Ich krieg nämlich ein Baby, gelt?«
»Stell dir vor«, sagte Florimel, so daß Renie sich die Entgegnung sparen konnte, »das ist uns tatsächlich schon aufgefallen.«
> Nachdem sie sich einmal dazu durchgerungen hatte, konnte Florimel es anscheinend kaum erwarten, mit ihrer Geschichte anzufangen. Sie hatten sich kaum um die Feuergrube versammelt, da ergriff sie schon das Wort: »Ich bin in München geboren. Anfang der dreißiger Jahre, während des Inneren Notstands. Der Stadtteil, in dem meine Mutter lebte, war ein Industrieslum. Wir wohnten zusammen mit einem Dutzend anderer Familien in einem kleinen ausgebauten Fabrikgebäude. Später wurde mir klar, daß ich es hätte schlechter haben können – viele der Familien waren politisch aktiv, einige Erwachsene wurden sogar von der Polizei wegen irgendwelcher Vergehen am Anfang der Migrantenrevolte gesucht, und ich lernte viel darüber, wie es wirklich in der Welt zugeht. Vielleicht zuviel.«
Sie blickte prüfend in die Runde, ob jemand vielleicht eine Frage stellen wollte, aber Renie und die anderen hatten zu lange darauf gewartet, etwas von dieser fremden Schicksalsgenossin zu erfahren, um sie zu unterbrechen.
Florimel neigte den Kopf und fuhr zügig fort. »Für meine Mutter war es definitiv zuviel. Als ihr Lebensgefährte, der vielleicht mein Vater war und vielleicht auch nicht, während eines Vorfalls umkam, den die Behörden als ›Krawall‹ bezeichneten, aber der eigentlich eher ein Versuch war, große Teile der gesellschaftlichen Randgruppen zusammenzutreiben und zu internieren, floh sie ganz aus München und zog in das Elztal im Schwarzwald.
Vielleicht könnt ihr euch noch an den Namen Marius Traugott erinnern – inzwischen ist er schon lange tot. Er war ein geistiger Lehrer, ein holistischer Heiler, ich vermute, man könnte ihn einen Mystiker nennen. Er schwamm auf der esoterischen Welle Ende des vorigen Jahrhunderts ziemlich weit nach oben, erwarb unter der alles privatisierenden Regierung Reutzler eines der letzten idyllischen Gebiete im Schwarzwald und gründete ein alternatives Zentrum, das er die Harmoniegemeinde nannte.«
»War das eine von … wie hieß sie noch gleich?« Renie versuchte sich an die Medienberichte zu erinnern. »Hat sie zur Kirche der Sozialen Harmonie gehört?«
Florimel schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Einer von Traugotts frühen Schülern spaltete sich von ihm ab und gründete die Sozialharmonistische Armee in den USA, aber wir waren anders, glaub mir – auch wenn viele Leute unsere Harmoniegemeinde natürlich als religiösen Kult bezeichneten. Aber es spielt keine Rolle, wie du es nennst, Kult, Kommune, soziales Experiment. Meine Mutter wurde dafür gewonnen, und als ich erst wenige Jahre alt war, trat sie bei und tauschte ihre spärliche Habe gegen ein schmales Bett in einer Schlafbaracke und einen Platz zu Füßen von Doktor Traugott ein.
Obwohl er sich ausschließlich von Rohkost ernährte, starb Traugott nur wenige Jahre später im Alter von achtzig Jahren. Die Harmoniegemeinde jedoch ging weder ein noch zerfiel sie. Mehrere ihrer Leiter führten sie fort, und sie machte zwar hin und wieder zum Teil recht extreme weltanschauliche Zickzacks durch – als ich ungefähr zwölf war, bewaffnete sich die Gemeinde eine Zeitlang gegen einen befürchteten Schlag des Staates, und irgendwann einmal versuchten einige der mehr mystisch eingestellten Mitglieder, Botschaften zu den Sternen zu senden –, doch alles in allem blieb sie weitgehend so, wie sie unter Doktor Traugott
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