Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
konnte es nicht ertragen, daß so, wie das Leben in der Kommune lief, er nur einer von vielen war. Er baute seine Machtposition im Gemeinderat aus, was nicht schwer war – wenige in der Harmoniegemeinde hatten irgendwelche Machtgelüste. Hatten wir nicht der Welt, wo solche Dinge wichtig waren, den Rücken gekehrt? Aber indem wir uns zu einer friedfertigen Schafherde machten, übten wir vielleicht eine unwiderstehliche Anziehung auf einen gerissenen Wolf aus. Und genau das war Anicho Berg.
Ich werde diesen Teil der Geschichte nicht weiter ausdehnen, denn er ist traurig und das Ende absehbar. Die von euch wie Martine, die die Nachrichtennetze verfolgen, haben möglicherweise sogar von dem unrühmlichen Ende der Harmoniegemeinde gehört. Es kam zu einer Schießerei mit der Polizei, bei der mehrere Leute starben, darunter auch Berg; mehrere andere wurden verhaftet. Ich war nicht dabei – Berg und seine Kohorten hatten mich und Eirene Monate vorher vertrieben. Ironischerweise machte Anicho damit Stimmung gegen mich, daß er mir den Besitz von Netzgeräten vorwarf – was machte ich, wollte er wissen, spät nachts, wenn die andern in der Kommune schliefen? Strom verbrauchen, mit Fremden kungeln, und bestimmt nicht mit guten Absichten, sollte das bedeuten. Ich muß leider sagen, daß in dem Klima, das er und seine Freunde schufen, meine Mitkommunarden das glaubten.
Ich rede schon wieder länger, als ich eigentlich wollte. Wahrscheinlich weil ich so lange geschwiegen habe. Ich hatte das alles beinahe vergessen, ganz als wären diese Dinge einer Fremden widerfahren. Aber jetzt, wo ich davon spreche, sind die Wunden wieder frisch.
Was ich natürlich machte und was rasch mein ganzes Leben übernahm, war nur eines: Ich versuchte herauszufinden, was mit meiner Tochter passiert war. Denn wie so viele andere, das wissen wir ja inzwischen, war sie plötzlich von einer unerklärlichen Krankheit befallen worden. Ich hatte zunächst keine Ahnung, daß es irgendwie mit dem Netz zusammenhängen könnte, denn ich war der Meinung, sie hätte meinen Anschluß immer nur unter meiner Aufsicht benutzt. Ich war so dumm, und daß ich diese bittere Einsicht mit vielen vielbeschäftigten Eltern teile, wie ich jetzt weiß, macht den Schmerz nicht geringer. Eirene konnte der Versuchung nicht widerstehen, und wenn ich auf Visite ging, nutzte sie die Zeit, um die virtuellen Welten jenseits der Gemeindemauern zu erforschen. Erst später, als ich die Buchungen auf meinem Benutzerkonto überprüfte, entdeckte ich, wie weit sie umhergeschweift war. Aber anfangs wußte ich nur, daß meine Tochter etwas so Jähes und Brutales wie einen Schlaganfall erlitten hatte und daß Ärzte, die weitaus kompetenter waren als ich, ihr nicht helfen konnten.
Aber während ich so gezwungen war, meine Kontakte zu Krankenhäusern und Klinikärzten und neuromedizinischen Spezialisten immer weiter auszudehnen, hatten Berg und andere damit begonnen, in den Mitgliedern unserer Kommune die Angst vor der Außenwelt zu schüren. Ich nehme an, sowas passiert einfach in abgeschlossenen Gemeinschaften. Selbst große, offene Gesellschaften werden hin und wieder von Paranoiawellen erfaßt, aber eben weil sie groß und offen sind, vergeht die Paranoia gewöhnlich wieder. In einer eingeschworenen Gruppe wie der Harmoniegemeinde jedoch kann die Paranoia immer weiterschwelen, vor allem, wenn sie von einigen angefacht wird, bis schließlich die Flammen aus der Glut schlagen. Berg und seine treuesten Gefolgsleute, viele davon junge Männer, die erst in den Monaten unmittelbar davor eingetreten waren, nahmen die einflußreichen Leute aufs Korn und wollten sie zwingen, sich entweder Berg anzuschließen oder sich ruhig zu verhalten. Unter anderen Umständen hätte ich mich dagegengestellt, hätte vielleicht sogar den Widerstand angeführt, um mir den Ort, der schließlich mein Zuhause war, zu erhalten. Aber ich konnte mich um nichts anderes mehr kümmern als darum, Heilung für Eirene zu finden. Tag für Tag und oft die ganze Nacht durchkämmte ich stundenlang das Netz – und nach zwei Jahren gelangte ich auf diesem Wege schließlich in die Scheinwelt der Atascos.
Aber lange davor mußte ich erleben, wie sich mein Zuhause bis zur Unkenntlichkeit verwandelte. Als ich mir irgendwann ernstliche Sorgen um meine Sicherheit machen mußte – das heißt, weniger um meine als um die von Eirene –, verließ ich die Harmoniegemeinde.
Das klingt jetzt einfacher, als es war. Mittlerweile
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