Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
gewesen war. Für mich war sie schlicht und einfach mein Zuhause. Wir Kinder aßen zusammen, schliefen zusammen, sangen zusammen. Unsere Eltern taten das gleiche – gemeinschaftlich leben, meine ich –, aber die beiden Gruppen waren weitgehend unabhängig voneinander. Die Kinder wurden alle zusammen unterrichtet, wobei das Schwergewicht sehr deutlich auf Philosophie, Gesundheitslehre und Religion lag. Es ist nicht sehr verwunderlich, daß ich mich für Medizin zu interessieren begann. Verwunderlich ist eher, daß die Stiftung Harmoniegemeinde mir, als ich alt genug war, tatsächlich ein Studium in Freiburg finanzierte. Ein Faktor wird allerdings gewesen sein, daß die Gruppe der Schulmedizin und von außen kommenden Ärzten mißtraute und daß wir bis zu dem Zeitpunkt nur eine einzige Schwester als Pflegekraft für fast sechshundert Leute hatten.
Ich werde euch nicht mit Geschichten darüber langweilen, wie meine Studienjahre mich veränderten. Junge Leute kennenzulernen, die ihre Mutter nicht ›Schwester in Gott‹ nannten und die ihr Leben lang im eigenen Zimmer im eigenen Bett geschlafen hatten, war wie die Begegnung mit Wesen von einem andern Stern. Erklärlicherweise betrachtete ich meine Sozialisation bald mit anderen Augen als vor meinem Weggang von der Gemeinde, wurde kritischer gegen die mir anerzogenen Überzeugungen, mochte die Wahrheiten von Doktor Marius Traugott nicht mehr fraglos hinnehmen. In Anbetracht dessen überrascht es euch vielleicht, daß ich nach Abschluß meines Studiums dennoch nach Hause zurückkehrte. Obwohl ich keinen Doktortitel besaß, wurde ich mit meiner Ausbildung zur wichtigsten ärztlichen Betreuerin der Harmoniegemeinde.
Ich denke, ich muß euch das erklären, oder ihr werdet es mißverstehen, wie es meistens passiert. Es stimmt, daß Traugotts Ideen zum großen Teil Unsinn waren und daß viele der von seinen Lehren und von der Kommune angezogenen Leute zu denen gehörten, die nicht die Kraft und die Wendigkeit besaßen, im großen wirtschaftlichen Existenzkampf draußen mitzuhalten. Aber hieß das, daß sie kein Recht auf Leben hatten? Wenn sie einfältig oder leichtgläubig waren oder es einfach satt hatten, eine Leiter hochzuklettern, die sich schon viele Male als zu schlüpfrig für sie erwiesen hatte, mußten sie deshalb wertlose Menschen sein?
Meine Mutter war nämlich so jemand. Sie hatte zwar dem politischen Straßenkampf bewußt den Rücken gekehrt, aber sie wollte keineswegs statt dessen einfach die Werte der Bourgeoisie übernehmen. Was sie wollte, waren ein Bett, ein sicherer Platz, um ihre Tochter großzuziehen, und die Gesellschaft von Menschen, die sie nicht anschrien, sie sei dumm oder rückgratlos, bloß weil sie Angst hatte, mit Steinen auf Polizisten zu werfen.
Die Mitglieder meiner Großfamilie in der Gemeinde waren überwiegend freundliche Leute. Sie fürchteten sich vor vielen Dingen, aber die Angst war bei ihnen nicht in Haß umgeschlagen. Noch nicht. Daher machte ich es mir nach dem Studium zur Aufgabe, ihnen zu helfen, und obwohl ich die Regeln und Lehren der Harmoniegemeinde nicht länger blind akzeptierte, setzte ich mich bedenkenlos dafür ein, das Leben ihrer Mitglieder zu verbessern. Und ich verbesserte es tatsächlich, sehr rasch sogar. Ich hatte mich an der Universität mit jemandem angefreundet, dessen Vater Manager in einem großen Unternehmen für Ärzte- und Krankenhausbedarf war, und auf seine Bitten hin – und sehr zu meiner Überraschung – stiftete uns das Unternehmen ein paar hervorragende Apparate.
Es wird Zeit, daß ich zur Sache komme.« Sie schnaubte. »Ich rede ohnehin schon viel zu lange. Ich habe euch nur deswegen von meinem Leben in der Harmoniegemeinde erzählt, weil das meine Person besser erklärt als alles andere. Aber ihr solltet auch wissen, daß meiner Mutter teils durch ihre Erfahrungen in München, teils durch Doktor Traugott eine Furcht vor dem modernen Leben mit seiner totalen Kommunikation und seinen imaginären Welten – kurzum, vor dem Leben des Netzes – eingeimpft worden war. Ich lernte in meiner Studienzeit, frei mit diesem Leben umzugehen, aber ein Teil von mir fürchtete es weiterhin. Es widersprach allem, was man uns zu verehren gelehrt hatte, war das Gegenteil des Rohen, des Unmittelbaren, des Lebendigen. Als ich meine stille Rebellion gegen Marius Traugotts Lehren unternahm, stellte ich mich dem, was ich fürchtete, und verbrachte schließlich fast genausoviel Zeit in den Informationswelten wie
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