Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
kommen nie dorthin, wo er mit seinem Körper hinkann.«
Renie wußte, daß das stimmte, aber das änderte nichts an ihrer Hilflosigkeit, an dem furchtbaren Druck der Verzweiflung, der sich in ihr aufbaute. »Was sollen wir also tun? Einfach hier sitzen bis zum Sankt Nimmerleinstag, obwohl wir wissen, daß der Mörder mittlerweile wahrscheinlich beide hat?«
Factum Quintus blickte auf. »Anders als euer Affenfreund sind wir für die Suche nicht auf die Dunkelheit angewiesen«, sagte er. »Im Gegenteil, wir tun uns tagsüber leichter, weil wir dann sehen können, in welchen Fluren der Staub nicht aufgerührt wurde – auf unserem Spähgang am Abend sind mir ein paar aufgefallen.«
»Das heißt, wenn !Xabbu bis zum Morgen nicht wieder da ist«, erklärte Renie, »können wir anfangen, uns umzuschauen.« Es war unglaublich, wie sehr die schlichte Möglichkeit, etwas zu tun, sie erleichterte.
»Dann sollten wir vorher alle noch ein bißchen zu schlafen versuchen«, meinte Florimel. »Wir waren nicht untätig, seit unser Freund aufgebrochen ist, und wir sind immer noch müde. Wir wissen nicht, worauf wir bei der Suche stoßen werden.«
»Tacko«, pflichtete T4b bei. »Ist wie wenn du’n Auto anhast, dieser Panzer.«
»Dann zieh ihn doch aus«, muffte Renie.
»Voll cräsh oder was?« T4b war schockiert. »Soll ich hier rumrennen und meinen churro baumeln lassen, irgendwie?«
Emily kicherte. Renie winkte genervt ab und machte sich wieder daran, das Ende ihrer Vorhangstange an der nackten Steinmauer zu schärfen.
Die Nacht rückte vor, aber niemand konnte schlafen. !Xabbu kam nicht wieder. Zuletzt fand niemand mehr etwas zu tun, und alle saßen schweigend da, eingesponnen in Gedanken und Sorgen. Draußen zog der Mond langsam über das Turritorium, als müßte er aufpassen, daß er sich nicht an den dornigen Türmen stach.
> »Code Delphi. Hier anfangen.
Etwas Eigenartiges und Erschreckendes ist geschehen. Noch jetzt fällt mir das Sprechen schwer, aber ich bezweifle, daß mir viel Zeit bleibt, und darum muß ich die Gelegenheit nutzen.
Das Ungeheuer in der Maske von Quan Li, das sich ›Dread‹ nennt, hat mich gründlich in die Mangel genommen, um mehr über das Zugangsgerät zu erfahren. Einige seiner Fragen waren unerwartet präzise, und ich bin mir jetzt sicher, daß er auch jemand Außenstehenden zu Rate zieht – was nicht verwunderlich ist, da er ja anders als wir das Netzwerk verlassen und dann in seinen gestohlenen Sim zurückkehren kann, wann es ihm beliebt. Aber die Art, wie er mich aushörte, hatte auch eine unterschwellige Schärfe. Ich könnte mir vorstellen, daß er die Kenntnisse von außen zum großen Teil dazu benutzt, mich auf die Probe zu stellen, sich zu vergewissern, daß ich ihm zutreffende Informationen liefere. Und obwohl ich ihn darüber, wie wir in das Haus gekommen sind, belogen habe, bin ich in allen anderen Ausführungen über das Zugangsgerät zum Glück ehrlich gewesen. Er ist zu gerissen, als daß ich es wagen könnte, ihn zu betrügen, und ich mache mir keine falschen Hoffnungen, daß er mich eine Sekunde länger am Leben läßt, als er mich brauchen kann.
Doch nein, das ist es gar nicht, was ich erzählen wollte. In meiner Aufregung habe ich falsch angefangen, es geht nämlich gar nicht um Dread. Als ich vor einer Weile aus einem kurzen, bleiernen Schlaf erwachte, war er wieder verschwunden, vielleicht um sich mit seinem anderen Informanten zu beraten, und ich war allein. Das heißt, ich dachte es.
Als ich benommen und mehr aus Gewohnheit als aus Hoffnung mein Kontrollritual durchführte, um zu prüfen, ob meine Fesseln noch fest waren und ob das Ding, an dem ich hänge, seinerseits noch fest an der Wand hing, wurde mir langsam bewußt, daß etwas an meinem Gefängniszimmer anders war. Es blieb mir nicht lange verborgen, was. Ich hatte mittlerweile zwei Leichen als Zellengenossen, die neben mir an der Wand lehnten.
Mir stockte das Herz, und ich betete, daß dieser neue Körper nur ein anderer Sim war und nicht einer meiner Gefährten, der auf der Suche nach mir gefangen und getötet worden war. Doch als ich mich konzentrierte, machte ich eine außerordentlich seltsame Entdeckung. Der erste Körper war nach wie vor die bekannte virtuelle Leiche der jungen Frau, die Dread umgebracht hatte. Der zweite Körper jedoch schien ihre Zwillingsschwester zu sein. Alles an dieser zweiten unbewegten Gestalt war ein Abbild der ersten – Form, Größe, Lage. Irgendwie hatte Dread
Weitere Kostenlose Bücher