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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ein Opfer ermordet, das genauso aussah wie das andere, und es dann, während ich schlief, in identischer Haltung hingesetzt. Aber wie? Und warum?
    Da fing die zweite Leiche zu sprechen an.
    Ich schrie auf. Ich sollte mich mittlerweile eigentlich an den Wahnsinn dieses Netzwerks gewöhnt haben, aber obwohl ich wußte, daß der erste Körper virtuell war, war er für mich doch eine Leiche, und der zweite war genauso kalt, genauso still. Bis er zu reden begann. Und die Stimme – sie mochte einmal dem ursprünglichen Replikanten gehört haben, der beklagenswerten, toten jungen Obergeschoßküchenmamsell, aber jetzt wurde sie von einem völlig sprachungewohnten Wesen benutzt, das sich anhörte wie ein Mittelding zwischen einem Leseautomaten und einem Apoplektiker. Ich kann das nicht wiedergeben. Ich probiere es erst gar nicht, denn schon bei dem Gedanken wird mir übel.
    ›Hilfe … erbeten‹, sagte die Leiche. ›Flußkorrektur. Umsteuerung. Hilfe.‹
    Falls ich darauf reagierte, dann mit einem Schreckenslaut. Ich war bestürzt, vollkommen überrascht.
    ›Hilfe erbeten‹, sagte sie abermals in genau dem gleichen Tonfall. ›Unerwarteter Feedback. Gefahr, daß Unterprogramm zentrale Direktive außer Kraft setzt.‹ Sie stockte, weil ein Schauder oder etwas ähnliches sie durchlief. Die drallen Arme bewegten sich ungerichtet, und eine der Hände stieß an die daneben liegende Doppelgängerin. ›Hilfe erbeten.‹
    ›Wer … wer bist du?‹ stieß ich hervor. ›Was für Hilfe brauchst du denn?‹
    Der Kopf schraubte sich zu mir herum, wie wenn die Leiche meine Anwesenheit erst jetzt wahrnahm, wo ich sprach. ›Sprache ist Sekundärfunktion. Unterprogramme sind gestört. Nemesis Zwei erbittet Klärung oder Umsteuerung …‹ Sie spuckte daraufhin eine Liste von Zahlen und Namen aus, wahrscheinlich Programmiercodes, aber vermischt mit anderen, kaum verständlichen Lautfolgen – wie es sich anhörte, keine Gearskripte, die mir je begegnet sind. ›Nemesis Eins funktionsunfähig durch Betriebssystemproblem‹, sagte sie langsam. ›Kein Kontakt, Zyklen nahe XAbbruchschwelleX. Nemesis Drei noch tätig, aber gerichtet auf die größere Anomalie, kein Kontakt, Zyklen nahe XAbbruchschwelleX. Für Weißer Ozean lies Meer des silbernen Lichts. Starker Zug. Nemesis Drei in Betrieb, aber als funktionsunfähig zu betrachten.‹ Trotz der mechanischen Stimme deutete irgend etwas an den Worten auf ein verheerendes Unglück hin; es war wie die täuschend normale Redeweise eines Menschen, der eine schreckliche Katastrophe überlebt hatte. ›Nemesis Zwei gefangen in expandierender Unterprogrammschleife. Kann Suche nach XPauljonasX nicht fortsetzen. Hilfe erbeten.‹
    Ich holte tief Luft. Was dieses Wesen auch war, es sah nicht so aus, als wollte es mir etwas tun, und bei dem Namen ›Paul Jonas‹ hatten sich bei mir sämtliche Antennen aufgestellt. Sellars hatte von einem Mann namens Jonas gesprochen – war dies hier etwas, das Sellars geschaffen hatte, um ihn zu finden? Oder kam es von den Gralsleuten? Wie auch immer, es hatte auf jeden Fall Probleme. ›Nemesis Zwei – bist … bist du das?‹ fragte ich.
    Es versuchte aufzustehen, oder jedenfalls nahm ich das an, doch es glückte nicht. Die kopierte Leiche kippte vornüber und lag nun mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden des kleinen Raumes. Eine der zuckenden Hände berührte mich, und ich zog rasch meine Beine weg. Ich konnte nicht anders.
    ›Abkoppeln nicht möglich‹, sagte sie. ›Abkoppeln von Beobachtung für Nemesis Zwei nicht möglich. Anomalie hier gegeben. Nicht XPauljonasX … aber auch nicht NICHT XPauljonasX. Abkoppeln für Nemesis Zwei nicht möglich.‹ Ausgeliefert wie ein gestrandeter Wal lag das Ding da. Ich könnte schwören, daß seine unmenschliche Stimme flehend klang. ›Hilfe erbeten.‹
    Bevor ich noch etwas sagen konnte, verschwand es. Im einen Moment lag es langsam herumfuchtelnd vor mir, im nächsten war es einfach nicht mehr da, und ich war wieder mit dem ursprünglichen toten Sim allein.
    Was es auch gewesen sein mag, mir ist zumute, als ob ich von einem ruhelosen Gespenst heimgesucht worden wäre. Wenn es ein Programm ist, daß diesen Jonas finden soll, dann beißt es sich wohl an Otherland die Zähne aus, so wie wir alle, habe ich langsam den Eindruck. Wie trainierte Laborratten, deren Befriedigungsknopf plötzlich Elektroschocks auszuteilen beginnt, scheint das Ding auf etwas fixiert zu sein, das es nicht verstehen kann und von dem es

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