Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
gefunden, trefflich im Rat und wortgewaltig. Er wird mit uns zu Achilles gehen, um des großen Kriegers Herz zu erweichen, daß er abläßt von seinem Zorn.«
Der bärtige Mann, der von der Bank zu ihnen aufsah, war kleiner als Ajax, aber immer noch groß genug. Sein lockiges Haupt saß kurzhalsig auf breiten Schultern, und ein schmaler Goldreif über der Stirn war das einzige Zeichen seiner Königswürde. Auch wenn er den Bauch eines Mannes hatte, der gern viel aß, war er dennoch muskulös und stattlich. Seine kleinen Augen lagen unter den buschigen Brauen tief in ihren Höhlen, aber Stolz und scharfer Verstand funkelten aus ihnen. Paul konnte sich nicht vorstellen, einen solchen Mann zu mögen, aber ihn zu fürchten, ohne weiteres.
»Gottgleicher Odysseus.« Der heerführende König zog eine breite Hand unter seinem dicken dunkelroten Mantel hervor und winkte Paul, sich zu setzen. »Jetzt ist deine Klugheit mehr denn je vonnöten.«
Paul nahm auf einer der mit Decken belegten Bänke Platz. Azador hockte sich neben ihn auf die Fersen, weiterhin in stoisches Schweigen gehüllt und den anderen, schien es, so gleichgültig wie eine Stubenfliege. Paul fragte sich, was wohl geschähe, wenn Azador das Wort ergriffe – ob sie ihn weiter wie Luft behandeln würden? Aber es war unwahrscheinlich, daß es dazu kommen würde, da der Zigeuner seit dem Strand keinen Mucks mehr getan hatte.
Ein paar Auslassungen über den Fortgang der Belagerung gingen hin und her, und Paul hörte genau zu und nickte zustimmend, wenn es ihm angebracht erschien. Einige der Details kamen ihm anders vor, als er sie von der Ilias in Erinnerung hatte, aber das war nicht verwunderlich: Zweifellos ergaben sich bei einem so komplexen System mit derart lebensechten Charakteren, daß sie von wirklichen Personen praktisch nicht zu unterscheiden waren, zahllose Abweichungen von der ursprünglichen Geschichte.
Die Belagerung lief nicht gut, darüber waren sich alle einig. Die Stadt hatte den Angriffen beinahe zehn lange Jahre getrotzt, und die Trojaner, allen voran Hektor, der Sohn des Königs Priamos, hatten sich als heldenmütige Kämpfer erwiesen; zur Zeit gab ihnen zudem das Fehlen von Achilles, dem größten Krieger der Griechen, noch zusätzlich Auftrieb. Mehrmals hatten sie in den letzten Tagen nicht nur die Griechen von den Mauern abgeschlagen, sondern waren auch bis dicht an die griechischen Befestigungen vorgestoßen und verfolgten offensichtlich den Plan, die Schiffe in Brand zu stecken und Agamemnons versammelte Heerscharen im Feindesland jeder Rückzugsmöglichkeit zu berauben. Die Liste der auf beiden Seiten Gefallenen war herzzerreißend lang, doch die trojanischen Krieger – geführt von Sarpedon und Hektors Bruder Paris (mit dessen Raub der schönen Helena der ganze Krieg überhaupt erst angefangen hatte), vor allem aber von dem gewaltigen, schier unaufhaltsamen Hektor – hatten den Griechen furchtbare Verluste zugefügt, so daß diese allmählich den Mut verloren.
Paul mußte innerlich grinsen, während der große Agamemnon und die anderen sich besprachen und alle wichtigen Punkte aufführten. Die zuständigen Programmiergewaltigen hatten in Rechnung gestellt, daß auch die wenigen wie Paul, die Homer tatsächlich gelesen hatten, das wahrscheinlich vor langer Zeit und vielleicht nicht mit der größten Aufmerksamkeit getan hatten.
»Doch wie ihr wißt«, sagte Agamemnon gedrückt und zupfte sich kummervoll den Bart, »beleidigte ich in meiner Habgier den Achilles, indem ich ihm ein gefangenes Mädchen abnahm, das er als Ehrgeschenk erhalten hatte, weil ich Ersatz für die Einbuße meines eigenen Ehrgeschenks begehrte. Ob Zeus, der König der Götter, sich in seinem Sinn gegen mich gewandt hat – jeder weiß, daß der Donnerer über die Geschicke des Achilles wacht –, vermag ich nicht zu sagen, aber ich fühle großes Unheil über den Häuptern der Griechen und ihren gutverdeckten Schiffen hängen. Wenn der erhabene Zeus sich von uns abgekehrt hat, so fürchte ich, wir werden alle unsere Gebeine hier am fremden Gestade zurücklassen, denn kein Mensch kann sich dem Willen des unsterblichen Kronos-Sohnes widersetzen.«
Agamemnon listete rasch all die prächtigen, großzügigen Gaben auf, mit denen er den Achilles für das weggenommene Ehrgeschenk zu entschädigen gedachte, wenn der große Krieger ihm nur verzeihen wollte – das Mädchen selbst wollte er ihm zurückgeben, dazu diverse Gegenstände aus Edelmetall und schnelle
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