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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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der Gegenstand aller Sorgen von Trojanern wie Griechen gleichermaßen. Auch er war kleiner als Ajax, der der größte Mann weit und breit zu sein schien, aber für sonstige Maßstäbe war er hochgewachsen und wie eine Marmorstatue gebaut mit seiner sonnengebräunten Haut, unter der sich jeder einzelne Muskel deutlich abzeichnete. Halb nackt, einen Mantel wie ein Laken über sich gezogen, sah er aus wie ein zum Leben erwachtes romantisches Gemälde.
    Achilles hob sein schönes Haupt mit den dunkelblonden Locken und sah sie an. Er neigte kurz den Kopf zur Seite, als lauschte er einer Stimme, die sonst niemand hören konnte, und wandte sich dann wieder seinen Gästen zu. Er sah nicht krank aus – seine Hautfarbe wirkte gesund, soweit Paul das in der dunklen Hütte erkennen konnte –, aber eine große Mattigkeit kennzeichnete seine Bewegungen.
    »Sagt Agamemnon, daß … daß ich krank bin«, erklärte er. »Ich kann nicht kämpfen. Egal, wen er schickt, da kann niemand was dran ändern, auch …«, wieder stockte er, die Augen in unbestimmte Fernen gerichtet, »… auch du nicht, mein alter Erzieher Phoinix.«
    Der alte Mann warf Paul einen Blick zu, als sei es jetzt an ihm, die ersten aufrüttelnden Worte zu sprechen, aber Paul hatte es mit seinem Einsatz durchaus nicht eilig. Während Phoinix notgedrungen seinerseits Agamemnons großzügiges Wiedergutmachungsangebot in allen ermüdenden Einzelheiten herunterbetete, beobachtete Paul, wie Achilles reagierte. Falls der berühmte Zorn in ihm schwelte, war jedenfalls nichts davon zu merken. Er war zwar sichtlich ungehalten, aber allem Anschein nach war das nichts weiter als die Verstimmung eines Mannes, den man ohne triftigen Grund aus dem Schlaf gerissen hatte, was dafür sprach, daß Patroklos die Wahrheit gesagt hatte. Aber Paul konnte sich nicht erinnern, daß Achilles in der Ilias irgendwie krank gewesen wäre. Vielleicht war dies eine der Abweichungen, entstanden aus der Komplexität eines sich immer wieder neu entfaltenden Environments.
    Phoinix’ gutes Zureden vermochte Achilles nicht umzustimmen. Ajax sprach brüsk von der Pflicht, die er den übrigen Griechen schulde, doch das schien den goldlockigen Krieger genausowenig zu beeindrucken.
    »Ihr begreift nicht«, sagte er mit leicht anschwellender Stimme. »Ich kann nicht kämpfen – jetzt nicht. Noch nicht. Ich bin schwach und krank. Eure ganzen Geschenke sind mir egal.« Er zögerte abermals, als versuchte er sich an etwas zu erinnern oder als spräche ihm eine leise Stimme ins Ohr. »Erbeuten kann ein Mann viel«, fuhr er schließlich langsam und bedächtig fort, als zitierte er einen berühmten Ausspruch, »das Leben eines Mannes aber kann weder erbeutet noch ergriffen werden, wenn es einmal dem Gehege der Zähne entflohen ist.«
    Mehr wollte er nicht sagen, und selbst Phoinix blieb zuletzt nichts anderes übrig, als enttäuscht zu kapitulieren und mit Paul, Ajax und dem schweigenden Azador wieder abzuziehen.
    »Wirst du mit uns kommen, um Agamemnon diese traurige Kunde zu überbringen?« fragte der alte Mann, als sie die Reihe der Schiffe entlang zurückstapften. Er sah zehn Jahre älter aus, und erneut erkannte Paul, wie todernst diese Dinge für alle hier waren.
    »Nein, ich möchte allein sein und nachdenken«, antwortete er. »Wenn ich es ihm sage, wird es auch nicht besser, aber es könnte sein, daß mir was einfällt … äh, daß ich in meinem Gemüt eine List ersinne.« Er wußte nicht, warum er sich eigentlich anstrengte, wie sie zu reden. Das System würde sich an jede Ausdrucksweise anpassen, die er wählte.
    Als Phoinix und der hünenhafte Ajax abmarschierten, um vom traurigen Ausgang ihrer Mission zu berichten, ging Paul plötzlich auf, was ihn störte. Er setzte schon an, es Azador zu erzählen, doch dann erschien es ihm geratener, die Beobachtung für sich zu behalten.
    Sie haben nicht wie die andern geredet und sich nicht wie die andern verhalten, dachte er. Achilles war noch ein bißchen besser gewesen als sein Freund Patroklos, doch auch er hatte sich angehört, als bekäme er Sachen souffliert. Konnte es sein, daß sie von außen kamen, nur zu Besuch im Netzwerk waren? Natürlich war damit noch lange nicht gesagt, daß sie keine Feinde waren. Sie konnten sogar Mitglieder der Gralsbruderschaft sein, die gerade einen Abenteuerurlaub auf einem ihrer milliardenteuren Spielplätze verbrachten. Er nahm sich vor, sie im Auge zu behalten und genau nachzudenken. Er war aus einem ganz bestimmten

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