Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
zudem meine Schwester, müßt ihr meinen kennen. Kassandra, was tust du hier, fern von den Frauengemächern? Unsere Mutter Hekabe macht sich Sorgen.«
Zu Renies Überraschung erhob sich Martine. »Dieses … dieses Mädchen hatte einen schlimmen Albtraum, Bruder«, sagte sie und deutete dabei auf Emily, die zusammengekauert auf den Steinplatten hockte. »Sie lief davon, und wir gingen sie suchen. Diese Männer halfen uns, sie zu finden.«
Der neu Hinzugekommene ließ seinen Blick über Renie und ihre Gefährten schweifen. Er schien die Geschichte nicht ganz zu glauben. »Meine Familie ist dir Dank schuldig, Glaukos«, sagte er schließlich zu T4b, der nervös schwieg. »Ihr Lykier seid die edelsten Männer, das ist wahr, und Verbündete, die allen Feinden Furcht einflößen. Jetzt aber kann ich diese Frauen mit zurücknehmen und ihre Ängste beschwichtigen, und du kannst zu deinem Truppenteil am Skäischen Tor zurückkehren.« Er musterte Renie und !Xabbu streng. »Säumt nicht, ihr Männer! Bald ist es Zeit, daß ihr euch rüsten müßt – blutige Taten werden geschehen, wenn die Sonne aufgeht, und viel Ehre ist zu gewinnen.«
Renie fühlte ihren Mut sinken. Kampf! Und dabei waren sie noch keine Stunde in Troja.
»Großer … Hektor«, sagte Martine mit einem Zögern, das die leichte Unsicherheit verriet, ob sie sich nicht im Namen irrte, »stehen denn die Griechen so dicht vor den Mauern? Ist keine Aussicht auf nur ein paar Tage Ruhe?«
Sie hatte seine Identität offensichtlich richtig geraten. »Die Griechen schlafen noch bei ihren meerdurchfahrenden Schiffen«, antwortete er, »aber die Götter haben gesprochen und uns kundgetan, daß der gottgleiche Achilles sich mit Agamemnon überworfen hat und nicht kämpfen wird. Jetzt bietet sich uns die Gelegenheit, mit großer Macht gegen sie anzustürmen und sie ins Meer zurückzutreiben, während ihr größter Krieger zürnend bei seinen schwarzen Schiffen sitzt. Aber genug geredet! Es ziemt sich nicht, daß ich vor euch Frauen allzu viel vom Kriege spreche und eure Sorge damit nur vermehre.«
Martine und Florimel halfen Emily auf. »Ich gehöre hier nicht her!« klagte das Mädchen, aber so leise und ohne Nachdruck, als spräche sie mit sich selbst.
»Keiner von uns ist gefeit gegen den Willen der wandelmütigen Götter«, sagte Hektor sanfter als in seinem vorherigen Befehlston zu ihr. »Komm, Mädchen. Ich werde dich wenigstens sicher zu den Frauengemächern zurückbringen.« Als er vortrat, waren seine Züge im Sternenlicht besser zu erkennen, die blasse Stirn und die lange gerade Nase unter den kohlschwarzen Haaren.
Einer der männlichen Protagonisten, dachte Renie unwillkürlich. Ein stattlicher Bursche, wenigstens in dieser Version. Aber ich glaube, am Schluß beißt er ins Gras, also was hat er letztlich davon?
Hektor ging den Frauen durch den Garten voraus, doch bevor sie das Bogentor erreichten, das in die Burg führte, drehte er sich noch einmal um und rief T4b zu: »Glaukos, sage dem edlen Sarpedon, daß ich eine Stunde vor Sonnenaufgang am Skäischen Tor sein werde. Wenn es deinen Männern irgend an Waffen oder Rüstung mangelt, dann schicke sie in die Rüstkammer beim Tor, und richte den Männern dort von mir aus, man gebe ihnen, was sie brauchen. Jeder Mann, der jetzt in Trojas Mauern weilt, muß bereit sein, wenn wir den Griechen und ihren wehrhaften Lanzen entgegentreten.«
Renie blickte ihnen noch nach, als sie schon längst verschwunden waren.
»Was denkst du?« fragte !Xabbu sie.
»Ich bin bloß in Gedanken wieder mit diesem System beschäftigt – es ist so erstaunlich.« Sie seufzte. »Ich könnte Jahre damit zubringen, dieses Netzwerk zu erforschen. Aber wir machen uns lieber auf die Socken und sehen zu, daß wir Rüstungen für uns auftreiben. Falls die Griechen auch nur annähernd so wie Hektor sind, möchte ich möglichst gut geschützt sein, auch wenn wir die meiste Zeit über bloß weglaufen und uns verstecken.«
Renie hatte sich gefragt, wie sie sich in der trojanischen Feste im Dunkeln zurechtfinden sollten, aber noch andere bewaffnete Männer zogen zum Tor hinunter, und Renie, !Xabbu und T4b mischten sich einfach unter sie.
»Weißt du, was mir durch den Kopf geht, ist, wie fest diese ganze Geschichte codiert sein mag.« Sie sprach leise, obwohl der kleine Trupp Wehrpflichtiger unmittelbar vor ihnen ein Lied über die schönen Hänge des Idagebirges sang und die Stimmen den aggressiven Ton angetrunkener Männer hatten,
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