Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
abschütteln. Ich kann das Leben nicht ausklammern, das ich vor meinem Eintritt in diese aberwitzige Welt geführt habe.
Hektor führte uns durch den Palast zu diesem abgesonderten Frauenteil. Bis auf wenige Fackeln an den Wänden waren die Gänge dunkel, und bis auf wenige Wächter waren sie leer. Zum erstenmal seit längerem hatte ich Anlaß, mich über meine Blindheit zu ärgern. Meine anderen Sinne haben uns in diesem Netzwerk unschätzbare Dienste geleistet, aber ich hätte zu gern die Fresken gesehen. Das wenige, was ich mit meinen Möglichkeiten erkennen kann, macht mich sicher, daß die Gralsbruderschaft sich um eine weitgehend originalgetreue Ausführung der Wandgemälde bemüht hat. Als Kind verliebte ich mich in die Fresken von Knossos auf Kreta, die in prächtigen Farben in einem Kunstband meiner Eltern reproduziert waren: springende Delphine und Vögel und Stiere. Ich hätte gern gesehen, wie die Wände im Palast des Priamos geschmückt waren.
Hektors Frau Andromache und seine Mutter Hekabe waren auf und warteten auf uns, denn sie sorgten sich um mich – beziehungsweise um Kassandra, in deren Rolle ich geschlüpft bin. Wenn ich mich recht entsinne, war Kassandra die Tochter des Königs, die von dem Gott Apollon die Sehergabe verliehen bekam, wobei dieser später die Gabe vergiftete, indem er bewirkte, daß keiner ihren Prophezeiungen Glauben schenkte. Vielleicht habe ich schlecht gewählt, vielleicht werde ich meine Wahl zu einem späteren Zeitpunkt sogar bereuen, aber soweit ich mich erinnern kann, ist Kassandra während des Trojanischen Krieges nur eine Randfigur.
Andromache freute sich noch mehr, ihren Hektor zu sehen als mich, und hoffte offensichtlich, er würde etwas bleiben, doch seiner romantischen Aura zum Trotz ist er ein brüsker und nüchterner Pflichtmensch und machte sofort klar, daß er jetzt, wo wir drei wohlbehalten abgeliefert waren, unverzüglich zum trojanischen Heer zurückmüsse. Um ihn nicht merken zu lassen, wie tieftraurig sie das machte, hielt seine Frau ihm ihren kleinen Sohn Astyanax zu einem Abschiedskuß hin, Hektor aber hatte seinen Bronzehelm mit dem großen Roßhaarbusch auf, und der Anblick des ungeheuerlichen Wesens, das der Vater damit darstellte, erschreckte das Kind.
Ich stand still erschüttert daneben, denn dies ist eine der ergreifendsten Szenen der ganzen Ilias, wenn sie auch im Epos in einen leicht anderen Zusammenhang eingebaut ist. Niemand außer mir, mit der möglichen Ausnahme von Florimel, wußte, daß der stolze, tapfere Hektor nicht mehr lebend zurückkehren und daß sogar seine Leiche vor den Augen seiner machtlosen Angehörigen geschändet werden würde, und dieses Wissen machte meine Gewißheit, daß dies Replikanten waren, nichts weiter als codierte Marionetten, vollkommen zunichte. Ja, als Hektor niederkniete und seinen Helm abnahm, um die Tränen seines Sohnes zu stillen, war es beinahe unmöglich zu glauben, daß eine derart menschliche Geste, einerlei wie berühmt oder wie vielkommentiert, ausschließlich vom Algorithmus eines Technikers erzeugt sein konnte.
Ich bin müde, schrecklich müde, aber die Erinnerung geht mir nicht aus dem Kopf. Was ist schlimmer für Hektor und seine Lieben – diesen traurigen Moment einmal zu durchleben, als reale Menschen, oder wie Dantes Sünder das tragische Geschehen wieder und immer wieder durchspielen zu müssen, ohne Hoffnung auf Erlösung?
Es ist albern, soviel über diese Gespenster nachzugrübeln – denn in gewisser Weise sind sie nichts anderes –, wenn gleichzeitig soviel zu tun ist, damit meinen wirklichen, lebendigen Freunden nichts zustößt. Die Erschöpfung ist schuld, daß ich diesen Augenblick immer wieder vor mir ablaufen lasse – wie Hektor sich hinkniet und den Helm mit dem nickenden Busch abnimmt, wie er die Arme nach dem weinenden Jungen ausstreckt, der noch nicht recht glaubt, daß es wirklich sein Vater ist. Andromache und die alte Hekabe sehen mit bitterem Lächeln zu, denn sie ahnen, auch wenn sie es nicht zugeben können, daß die Ängstlichkeit des Kindes zwar grundlos scheint, in Wahrheit aber berechtigt ist, daß es die Gegenwart des Todes im Haus spürt.
Es war ein langer Tag – er hat schließlich in einer ganz anderen Welt angefangen. Mir gehen allmählich die Worte aus. Die Frauen haben sich alle zu Bett begeben. Neben mir liegt Florimel und schnarcht. Emily ist endlich in einen flachen Schlummer gesunken, murmelt und wälzt sich herum, aber weint wenigstens nicht mehr.
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