Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
lassen.
Die Trojaner rollten unablässig heran wie ein gegen die Felsen brandendes Meer. Hinter den vielen Hunderten an und auf den griechischen Mauern drängten Tausende und Abertausende nach, die es allem Anschein nach kaum erwarten konnten, einen Platz neben ihren Kameraden einzunehmen. Zeitweise sah es so aus, als wären die Trojaner tatsächlich von einem göttlichen Wahnsinn befallen, denn einerlei, wie viele getötet wurden, rückten immer wieder neue nach, die willig die Leichen fortschleiften und die Lücken füllten.
Mehrere trojanische Helden führten den Angriff an – Paul hörte, wie ihre Namen von Freund und Feind gerufen wurden, ganz als ob der Krieg eine wilde, gefährliche Sportveranstaltung und das Fußvolk auf beiden Seiten dort begeistert, hier entsetzt wäre, zusammen mit lebenden Legenden wie Sarpedon, Äneas und Deïphobos auf ein und demselben Schlachtfeld zu sein. Der gewaltigste und furchtbarste von allen aber war Hektor, der Sohn des Königs Priamos, der überall gleichzeitig zu sein schien, indem er im einen Moment drohte, das griechische Tor allein mit seiner Arme Kraft aufzusprengen, und gleich darauf ganz woanders einen Angriff auf einen schwachen Punkt der Abwehr führte. Auch die Griechen boten ihre großen Vorkämpfer auf, Diomedes und den greisen Nestor und Helenas verschmähten Gatten Menelaos, aber zu dem Zeitpunkt konnte keiner von ihnen es mit Hektor aufnehmen, der einmal sogar zwei griechische Krieger mit einem Lanzenstoß durchbohrte, so daß sie ihr Leben aneinandergeschmiegt wie Löffel in einer Besteckschublade aushauchten. Hektor hielt sich nicht damit auf, über seine eigene Kraft zu staunen, sondern stemmte den Fuß gegen den vordersten und schob die Körper von der Lanze herunter, so daß sie leblos übereinanderfielen, während er mit seiner Aufmerksamkeit schon wieder woanders war. Agamemnons Vergleich traf zu: Er wirkte wahrhaftig wie der Löwe unter den Hunden.
Paul war in den allgemeinen gleichmäßigen Rhythmus von Stoßen und Zurückweichen verfallen, nahm anderen das Leben, um das eigene zu retten. Diese antike Kriegführung war anders als alles, was er je gesehen hatte, kein überlegter Angriff und Gegenangriff geschulter Schwertkämpfer. Wenn die Pfeile und Speere zischend niedergegangen waren, preschten die Überlebenden schreiend vor. Schild prallte auf Schild, und die Nahkämpfer versuchten, sich mit ihren kurzen Klingen gegenseitig abzustechen. In dem wilden Gemetzel waren sich alle so grauenhaft nahe, daß andere Männer sich beim Kämpfen an Paul abstützten, und man wußte kaum, woran man Freund und Feind unterscheiden sollte. Er selbst erhielt mehrere Wunden, doch die schlimmste war eine zwar schmerzhaft blutende, aber ziemlich flache Schramme am Arm von einem Speer, der sich durch seinen Schild gebohrt hatte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als von der Mauer herunter und der Gefahr entronnen zu sein, aber während die Sonne sich blutrot über die Ebene erhob, wurde klar, daß die Trojaner Sieg witterten, und je länger Hektor in seiner funkelnden Rüstung unglückliche Griechen zerfleischte wie eine auf einem Kinderfest losgelassene Dschungelbestie, um so mehr erkannte Paul seine eigene Schwäche und Müdigkeit in den Bewegungen der anderen Verteidiger wieder. Es würde bald vorbei sein. Er würde zuletzt den schwarzen Frieden bekommen, den er so oft herbeigesehnt hatte, gerade jetzt, wo er ihn am wenigsten wollte.
Wieder scharten sich Trojaner vor dem Tor zusammen, um es aufzubrechen. Um Atem ringend beobachtete Paul, wie sie drängelnd aus dem Graben emporkamen und gegen ihn und die anderen erschöpften Griechen anrannten. Mit ihren Schilden über den Köpfen sahen die Angreifer mehr wie Insekten als wie Menschen aus – Paul hatte beinahe den Eindruck, auf einen Schwarm Kakerlaken hinabzublicken. Nur ein Gesicht war zu sehen: das des schwarzhaarigen Hektor, der wie ein Kriegsgott in ihrer Mitte stand, unbekümmert um griechische Pfeile, die bluttriefende Lanze hoch erhoben in einer Hand, während er mit der anderen seine Landsleute auf das in den Angeln ächzende Tor zutrieb. Diomedes war von der Mauer gesprungen, um den Kampf mit Hektor zu suchen, doch andere Trojaner umringten den griechischen Helden; er hatte zwar schon mehrere getötet, aber wurde weiter von ihnen bedrängt, einige Dutzend Meter von Hektor entfernt.
Als Paul, hypnotisiert von der Welle der ihm langsam entgegensteigenden Schilde, gerade in einen schicksalsergebenen
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