Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Fiebertraum abgleiten wollte, gab es neben seinen Füßen einen schweren Bums, woraufhin sich eine Hand wie ein Schraubstock um seinen Knöchel schloß. Er hob mit dumpfer Benommenheit sein Schwert und merkte erst mitten in der Bewegung, daß er von hinten gepackt worden war, von der griechischen Seite der Mauer.
Der Riese Ajax stand unter ihm auf dem Boden. Er streckte die Hand aus, die Pauls Bein umklammert gehalten hatte.
»Hilf mir hoch, Odysseus.«
Paul suchte sich eine Stütze, dann hielt er Ajax die Hand hin, so daß dieser sie fassen konnte, und mußte dabei erkennen, daß er mit all seiner Kraft den Koloß gerade einmal von einem Teil seines Gewichts entlasten konnte. Ajax zog sich auf die Mauer hinauf, wo er sich kurz verschnaufte und dabei mit grimmiger Miene auf die heranschwärmenden Trojaner niederblickte.
»Ich wäre früher zurückgekehrt«, grollte er, »aber dieser Schönling Paris hatte mit einigen seiner Männer die Mauer genommen. Wir trieben ihn recht flugs wieder hinunter.« Ajax, hochrot im Gesicht und schweißüberströmt, war sichtlich erschöpft, aber sein Anblick war dennoch überwältigend. Wenn Hektor ein Kriegsgott war, dann war er ein Vertreter eines älteren, rauheren Göttergeschlechts, ein Gott der Berge, der Erde … des Steins.
Paul sah fassungslos zu, wie Ajax sich bückte, den Felsblock hochhob, den er zu Pauls Füßen auf die Mauer gewuchtet hatte, und sich mit einem tiefen Schnaufen aufrichtete. »Viel weiter hätte ich den nicht tragen mögen«, röchelte er, die Halssehnen zum Zerreißen gespannt. Dem Aussehen nach hatte der Stein das Gewicht eines Kleinwagens.
Helden, dachte Paul. Gottverdammte Helden sind das und für nichts anderes gemacht. So heißt es ja auch ständig in der Ilias: ein Stein, »wie nicht zwei Männer ihn tragen, so wie heute die Sterblichen sind«.
»So, wo ist jetzt dieser Hund Hektor?« krächzte Ajax. Gleich darauf hatte er den mächtigen Sohn des Priamos erspäht, der sich gerade in die vorderste Angriffsreihe schob. »Ah«, grunzte der Hüne, stemmte dann mit so laut knarrenden Muskeln, daß Paul unwillkürlich zurückwich, den Felsblock hoch und hielt ihn mit zitternden, baumstammstarken Armen über dem Kopf. »Hektor!« schrie er. »Hier hast du ein Geschenk von den Griechen!«
Hektors stolzes Gesicht kam genau in dem Moment hoch, als Ajax den großen Stein auf ihn niederschleuderte. Dem Helden von Troja blieb gerade noch Zeit, seinen Schild hochzureißen und die Muskeln anzuspannen, bevor der Stein ihn zu Boden schmetterte. Im Weiterrollen tötete er drei Männer, und die trojanische Angriffslinie spritzte erschrocken brüllend auseinander. Ein paar hatten noch die Geistesgegenwart, Hektors schlaffen Körper mitzuschleifen, als sie sich in den trojanischen Haufen zurückzogen.
»Du hast ihn getötet!« sagte Paul entgeistert.
Ajax stand vornübergebeugt, die Unterarme auf die Schenkel gestützt, und bebte am ganzen Leib. Er schüttelte den Kopf. »Der große Hektor bewegt sich noch – das sah ich, als sie ihn fortzogen. Er ist zu stark, um sich von einem Stein töten zu lassen. Aber unter der Sonne dieses Tages wird er nicht mehr kämpfen, denke ich.«
Zu Pauls großer Erleichterung verbreitete sich der Schrecken der Niederlage in den trojanischen Reihen wie die Panik beim Geruch eines Buschfeuers in einem Hirschrudel. Die Mauerstürmer ließen ab, und obwohl weiterhin Pfeile flogen, wich die Mehrzahl der Trojaner mit Hektors bewußtlosem Körper auf die andere Seite des Grabens zurück. Die Götter, schien es, hatten der Streitmacht des Priamos ihre Gunst entzogen … wenigstens fürs erste.
> »Code Delphi. Hier anfangen.
Die Sonne steht hoch, und sämtliche Mitglieder der königlichen Familie haben sich auf dem Wachturm versammelt und versuchen zu ergründen, was in der Schlacht beim griechischen Lager geschieht, die auf diese Entfernung eigentlich nicht anders aussehen kann als ein wimmelnder Ameisenhaufen. Das Kämpfen dauert schon seit Stunden an. Alle wissen, daß es auf beiden Seiten schon viele Tote gegeben haben muß. Wie furchtbar, ohnmächtig warten zu müssen, bis man erfährt, wer überlebt hat und wer nicht! Und ich verstehe Priamos und Hekabe und die anderen nur zu gut, denn auch meine Freunde sind dort irgendwo in dem Schlachtgetümmel. Selbst in dieser imaginären Welt scheint die Menschheit eine Maschine zu sein, die kein anderes Ziel verfolgt, als sich selbst zugrunde zu richten. Falls hier die Hand der
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