Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Evolution am Werk ist, falls der gewaltsame Tod irgendeinem höheren Zweck dient, kann ich nichts davon sehen.
Aber natürlich sehe ich sowieso nichts. Wie dumm von mir, mir einzubilden, diese neuen Sinne und meine Gewöhnung an die neue Situation würden mich weniger blind machen. Ich bin im Dunkel verloren.
Nein. Ordnung. Ich muß meine Gedanken ordnen. Ich weiß nicht, wieviel Zeit mir bleibt, bevor die Entscheidung des Tages fällt und die Trojaner entweder im Siegeszug anmarschiert kommen oder geschlagen zu den Toren fliehen. Möglicherweise brauchen meine Freunde Hilfe, wenn sie zurückkehren. Falls sie zurückkehren. Nein. Ich muß meine Gedanken ordnen.
Ich konnte nach meinem letzten Diktat nur wenig schlafen. Bei Tagesanbruch erwachte ich aus einem beklemmenden Traum, in dem ich wieder im nachtschwarzen Pestalozzi-Institut war und die jammernden Stimmen verlorener Kinder durch die Gänge hallten. Ich konnte nicht wieder einschlafen und versuchte es gar nicht erst lange. Auch wenn ich ziemlich wenig tun kann, seitdem ich die Rollen festgelegt und meine Freunde in den Krieg geschickt habe, kann ich meine Zeit doch zweifellos besser nutzen, als in den frühen Morgenstunden schlaflos wachzuliegen und vor mich hinzubrüten.
Emily erwachte, als ich aufstand. Sie war bockig wie ein kleines Kind, aber vielleicht hing mir der Traum noch nach, denn zum erstenmal hatte ich wirklich herzliches Mitgefühl mit ihr. Was sie auch sein mag, es war auf jeden Fall nicht ihr Wunsch, in unsere Schwierigkeiten hineingezogen zu werden, und sie hat darunter zu leiden. Wobei die Art, wie sie leidet, vielleicht sogar etwas Wichtiges zu bedeuten hat … aber ich greife schon wieder vor. Ordnung, Martine.
Florimel schlief Gott sei Dank noch – sie muß sich dringend ausruhen –, und da das Mädchen sich fürchtete, allein in den Frauengemächern zu bleiben, nahm ich sie mit. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinwollte, aber ich war entschlossen, etwas über diese berühmte Stadt zu erfahren. Es hat einen Grund, daß wir hier sind, daran muß ich glauben. Die Erscheinung – die Madonna der Fenster, wie der Mönch sie nannte – kann nicht bloß ein Teil der Hauswelt gewesen sein, da sie von dieser Simulation hier sprach. Jemand hat mit uns kommuniziert oder es probiert. Jemand wollte, daß wir hierherkommen. Aber wer … und warum? Und wohin genau sollen wir uns begeben? Es gibt so viele Möglichkeiten.
Als wir die Frauengemächer verließen und durch den Palast gingen, hörte ich in vielen Zimmern Stimmen – Gebete, leise Wortwechsel, auch Weinen. Emily und ich waren nicht die einzigen, die den Tag voll Unruhe erwarteten. Mehrmals wurden wir von Männern angehalten, manche bewaffnet, manche mit eiligen Botschaften unterwegs zum König Priamos, aber alle waren sie in Gedanken woanders und wollten wenig mehr als sich vergewissern, daß wir nicht vorhatten, zum Tor zu gehen, wo die Männer sich zum Gefecht versammelten. Ich hatte mich gefragt, ob Priamos selbst im Brennpunkt unseres Auftrags von der Madonna der Fenster stehen mochte, aber konnte dafür keinen Anhaltspunkt finden. Jedenfalls hatte ich mir vorgenommen, die königlichen Gemächer erst bei Tag zu erkunden, wenn er und seine Berater von der Schlacht auf der Ebene abgelenkt waren, weil sich in dieser Nacht sicher Trojas männliche Führungselite dort versammelte.
Draußen schien die ganze sagenumwobene Stadt bewegungslos, aber angespannt dazuliegen wie jemand, der sich schlafend stellt. Als wir über den großen Platz schritten und selbst meine erweiterten Sinne von den wallenden Frühnebelschleiern getrübt wurden, kam mir die Burg hinter uns wie ein Traumpalast vor, in den man nicht so leicht wieder hineinkam, wie man hinausgekommen war.
Emily neben mir war still, aber wachsam und mißtrauisch wie eine Katze, die in ein unbekanntes Zimmer tritt. ›Fühlst du etwas?‹ fragte ich sie.
Sie nickte, aber fast widerwillig. Ich konnte … tja, riechen, hören, sehen, alle diese Worte treffen es nicht … ich konnte spüren, wie sie sich innerlich zusammenzog, als ob die Umstände sie zwängen, sich in sich selbst zu verkriechen. ›Irgendwas … Ich fühle … irgendwas.‹
Wie ein Pferd, das jeden Moment durchgehen kann, lenkte ich sie mit gutem Zureden und kleinen Berührungen ab und lotste sie dabei langsam in die Richtung, die ihr am meisten angst zu machen schien. Ich kann es nicht recht erklären, sowenig wie ich die Sinneswahrnehmungen benennen kann, die mich
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