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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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für meinen fehlenden Gesichtssinn entschädigen, aber ich habe eine Ahnung, daß sie aus irgendeinem Grund empfindlich auf Anomalien im System reagieren könnte oder wenigstens auf die spezielle Anomalie, die uns hierhergebracht hat. Renie hat mir erzählt, daß das Erscheinen der Madonna der Fenster Emily beinahe wie ein Elektroschock traf. Ich hoffte, daß ihr Unbehagen nicht bloß allgemeiner Natur war, daß es jetzt vielleicht auf die Nähe zu einem ähnlichen Phänomen hindeutete.
    Es war grausam. Ich tat nur ungern, was ich tun mußte, und ich fürchte, ich werde noch Schlimmeres auf dem Gewissen haben, bevor dies alles hier zu Ende ist, aber ich weiß auch, daß wir furchtbar unter Druck stehen – daß unsere Unwissenheit bereits Zeit und Menschenleben gekostet hat.
    Lange bevor wir das Stadtinnere Trojas verließen, war Emilys Unbehagen so stark, daß ich das sichere Gefühl hatte, wir näherten uns einem wichtigen Punkt. Wir durchquerten den Markt, wo die leeren Stände uns wie Augenhöhlen entgegenstarrten und noch ein paar im Wirrwarr des Krieges vergessene Stoffbahnen im Wind flatterten. Als sie irgendwann so zitterte wie bei einem Anfall von Schüttellähmung und weinend flehte, wir möchten in die Burg zurückkehren, erkannte ich, daß am Ende der Straße, in der wir haltgemacht hatten, ein großes Gebäude stand. Mit Versprechungen, daß wir bald umkehren würden, drängte ich sie weiterzugehen, und obwohl sie vor Furcht kaum mehr aus noch ein wußte, gelang es mir, sie die Stufen zu dem mächtigen, säulengeschmückten Kasten hinaufzuführen. Ich hatte einen Verdacht, was es für ein Bauwerk war, aber ich wollte mir sicher sein.
    ›Ich weiß, daß du Angst hast, Emily‹, sagte ich. ›Paß auf, ich gehe nachsehen, was das hier ist, dann komme ich zu dir zurück.‹ Aber zu meinem Erstaunen bestand sie darauf, mich zu begleiten, weil sie sich mehr davor fürchtete, allein zu sein, als vor ihren inneren Qualen.
    Männer in langen Gewändern kamen mir entgegen, als ich durch das große Bronzetor trat. Es waren Priester, und wie ich vermutet hatte, war dies der berühmte Tempel der Athene. Als sie mich erkannten – nicht Stolz oder Luxusbedürfnis hatte mich bewogen, die Priamostochter Kassandra zu verkörpern, sondern die relative Bewegungsfreiheit –, wichen sie zur Seite und ließen mich ein.
    Trotz der vorgezogenen Vorhänge sagten mir meine Sinne, daß die Gestalt an der Rückwand des hohen Raumes die große Holzstatue der Athene war, das sogenannte Palladion. Erinnerungen an die Rolle Athenes in der Ilias, gekoppelt mit meinem Verdacht zur Ursache von Emilys Empfindlichkeit, ließen mich vermuten, daß an diesem Ort eine Verbindung bestehen oder wenigstens eine Gestalt wie die Madonna der Fenster in Erscheinung treten konnte – es gibt einen starken Hang zum Metaphorischen in diesem Otherlandnetzwerk, vielleicht schon in der ursprünglichen Anlage, vielleicht auch nur im Zusammenhang mit unserer ›Geschichte‹, wie Kunohara es genannt hat. Doch als wir uns dem verhüllten Altar näherten, legte Emily zu meiner Überraschung keineswegs ein größeres Widerstreben an den Tag, eher schienen die soliden Steinmauern des Tempels sie zu beruhigen. Sie blieb stehen und wartete nahezu geduldig, während ich den Raum nach etwaigen Anzeichen eines verborgenen Eingangs absuchte, der zu dem von Kunohara erwähnten Labyrinth führte, aber ich hatte keinen Erfolg.
    Ich führte sie wieder hinaus und nahm mir vor, noch einmal bei Tag zu kommen, wo ich in aller Ruhe herumstöbern konnte, ohne Emily zu quälen und dadurch ständig abgelenkt zu sein. Aber seltsamerweise kehrte ihr Unbehagen zurück, kaum daß wir den Athenetempel verlassen hatten, so daß sie schließlich, als wir auf gewundenen Pfaden beinahe wieder die Burg erreicht hatten, nicht nur zitterte, sondern auch leise weinte. Als es zuletzt ganz schlimm wurde, mußte ich einwilligen, daß sie sich auf ein niedriges Mäuerchen setzte, um sich wieder zu fassen. Der Ort, wo wir uns befanden, mußte ein für trojanische Verhältnisse relativ alter und zwielichtiger Teil der Akropolis sein. Die Tempel und sonstigen Gebäude waren klein und, soweit ich sagen konnte, in schlechtem Zustand. Die Bäume, die das Sträßchen säumten, verdeckten den Himmel fast vollständig. Wasser, das irgendwo auf Stein träufelte, machte in der Stille ein eindringliches Geräusch.
    ›Ist sie krank?‹ fragte mich jemand. Die Ansprache war in der letzten Stunde vor

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