Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Schild schlagen, daß man es über den ganzen Schlachtenlärm hinweg hörte, und die Geflohenen auffordern, zurückzukommen und sich mit ihm zu messen.
Ein Bote entdeckte Paul und bestellte ihn zu Agamemnon, der breitbeinig und zitternd ein kurzes Stück hinter der Mauer stand, mit blutigen Schrammen bedeckt.
»In diesem Augenblick, edler Odysseus«, keuchte der König, »fühle ich, wie Vater Zeus die Waagschalen auseinanderspannt. Unsere Todeslose senken sich bis zum Hades hinab, der Schicksalstag der verfluchten Trojaner hingegen erhebt sich bis zum Himmel. Ajax und Diomedes haben sich gleich wieder in den Kampf gestürzt, aber ich denke, keiner von ihnen kann Hektor aufhalten, über den sichtlich die Hand eines Gottes wacht. Was sollen wir tun?« Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Nur Achilles kann gegen ihn antreten. Wo ist er? Wirst du noch einmal zu ihm gehen und ihn bitten, uns in unserer großen Not beizustehen?«
Wenn man sah, wie grau dieser mächtige Mann geworden war und wie sehr die Anstrengung an ihm zehrte, war es fast unmöglich, nicht wenigstens ein bißchen Mitleid zu empfinden. »Er ist krank. Er kann kaum aufrecht stehen. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.«
Agamemnon schüttelte den Kopf, und Schweißtropfen flogen aus seinem gelockten Bart. Ganz in der Nähe wurde ein griechischer Verteidiger von einem Speer durchbohrt, so daß die blutige Spitze ihm zum Rücken herausfuhr, und er stürzte laut aufschreiend rückwärts von der Mauer. »Dann hat ein Gott das über ihn verhängt, so wie Apollon uns vorher mit einer Seuche schlug, weil wir einen seiner Priester beleidigt hatten.« Immer noch keuchend stützte sich der Heerführer auf die Knie. »Es ist hart. Haben wir es jemals an den gebührenden Opfern fehlen lassen?«
»Das Problem ist Hektor, nicht wahr?« sagte Paul. »Wenn wir den aufhalten könnten, würde das einigen Wind aus den trojanischen Segeln nehmen, was?«
Agamemnon zuckte schwerfällig mit den Schultern. »Ich glaube, nicht einmal der gottgleiche Diomedes vermöchte ihn aufzuhalten. Hast du nicht gesehen, wie Hektor die Griechen hinschlachtet und sich gar nicht ersättigen kann am Mord? Der Priamossohn ist wie ein Löwe, der brüllend in ein Gehöft eingefallen ist, daß alle Hunde sich hinter den Häusern verstecken.«
»Dann sollten wir vielleicht nicht im Zweikampf gegen ihn antreten«, meinte Paul. Irgend etwas mußte geschehen, oder der Plan, oder was es sonst war, das ihn hierhergebracht und zu den Jungen Orlando und Fredericks geführt hatte, würde in einem Meer von Blut untergehen. »Wir sollten einen Stein auf ihn schmeißen oder so.«
Agamemnon sah ihn seltsam an, und erst dachte Paul, er werde jetzt wegen seiner unheroischen Gesinnung getadelt. Statt dessen sagte der Herrscher: »Du bist fürwahr der klügste von allen Griechen, erfindungsreicher Odysseus. Besorge mir Ajax und sage ihm, er möge zu mir kommen.«
Paul eilte durchs Lager. Schon jetzt war der Boden von Körpern übersät, die man hastig von den Mauern weggezogen hatte, damit sie die anderen Verteidiger nicht behinderten, und an vielen Stellen war soviel Blut geflossen, daß der Schlamm ekelerregend rot war.
Wie bringen sie das fertig? war sein ohnmächtiger Gedanke, als er seine Schritte zu den kämpfenden Knäueln auf der griechischen Mauer lenkte, jedes bestehend aus zwei oder mehr Männern, die sich bemühten, zu töten, bevor sie selber getötet wurden. Dieses … organisierte Morden? Wie kann ein Mensch, und sei es in einer virtuellen Welt, sich in so einen Irrsinn stürzen, wenn er weiß, daß Tausende nur darauf warten, ihm eine Lanze in den Leib zu rammen oder einen Pfeil ins Auge zu schießen? Er konnte jetzt Ajax hören, der laut wie ein wütender Stier im Kampf schrie. Aber was habe ich eigentlich hier verloren? Warum verstecke ich mich nicht einfach, bis dieser ganze Spuk vorbei ist? Weil ich diese beiden Jungen beschützen will, damit sie mir helfen herauszufinden, warum ich das alles mitmachen muß?
Ob man es nun schreckliches Pech nennt, oder ob man es auf den Willen der Götter schiebt, entschied er, während die Schreie der Verwundeten zum Himmel emporschollen und selbst das ruhige Kreisen der Raben störten, ich vermute, so geht’s einem, wenn alle Lose, die man ziehen kann, Nieten sind.
Paul war gezwungen, Ajax’ Platz auf der Mauer einzunehmen, und seine grundsätzlichen Betrachtungen wurden von der Notwendigkeit verdrängt, sich nicht umbringen zu
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