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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Morgengrauen so unerwartet, daß ich auffuhr. ›Ich kann euch Unterkunft bieten. Oder wolltet ihr ein Opfer bringen?‹
    Der Fremde schien ein vom Alter gebeugter und auf einen Stab gestützter Mann zu sein, der in einen schweren, wenn auch fadenscheinigen Wollumhang gehüllt war. Ich konnte natürlich sein Gesicht nicht erkennen, jedenfalls nicht so, wie ein sehender Mensch es gekonnt hätte, aber die Information, die es mir gab, ließ vermuten, daß er nicht nur alt, sondern sehr alt war, zumal er außer einem dünnen Bart am Kinn keine Haare hatte, und die Art, wie er den Kopf hielt, deutete darauf hin, daß er blind war. Diese Ironie entging mir nicht, als ich mich bei ihm bedankte und ihm sagte, wir seien fast zuhause.
    Er nickte. ›Dann müßt ihr aus dem Palast sein‹, meinte er. ›Ich kann es an deiner Stimme hören. Einige andere haben in den letzten Wochen von dort hierhergefunden und ansonsten vergessene Götter und Göttinnen aufgesucht.‹
    ›Bist du ein Priester?‹ fragte ich.
    ›Ja. Und meine Schutzgöttin Demeter erlegt ihren Priestern als besondere Pflicht die Sorge um die Frauen und ihre unglücklichen Schicksale auf. Dennoch, wenn man die schreckliche Blüte des Witwentums derzeit bedenkt, sollte man meinen, der Tempel meiner Herrin wäre nicht so verödet, die Altäre so bar der Gaben. Da jedoch ihre Tochter Persephone wider Willen die Frau des Todesgottes ist, mag es vielleicht denn doch nicht so sehr verwundern.‹
    Etwas an seinen Worten elektrisierte mich. ›Darf ich den Demetertempel besuchen?‹
    Er deutete auf eine noch tiefer im Baumschatten liegende Stelle abseits der Straße, wo ein kleiner, unscheinbarer Bau an einer Anhöhe klebte. ›Kommt mit. Ich fürchte, daß es wegen meines erloschenen Augenlichts darin nicht so sauber ist wie früher einmal. Ich werde Hilfe erhalten, wenn die Zeit der Mysterien kommt, aber das restliche Jahr über …‹
    Plötzlich sprang Emily auf. ›Nein!‹ schrie sie. ›Nein, geh nicht, geh nicht da rein!‹ Sie gebärdete sich völlig hysterisch und wollte keinen Schritt näher an den winzigen Tempel herangehen, nicht einmal um mich davon wegzuziehen. ›Nicht! Oh, bring mich zurück! Ich will hier weg!‹
    Mein Herz schlug heftig, als ich mich bei dem Priester entschuldigte und ihm einen Obolos, eine kleine Münze, in die Hand drückte. Emily war so erleichtert, daß sie den restlichen Weg zur Burg beinahe rannte, und mit jedem Schritt wurde sie froher. Was mich betrifft, so war ich – und bin ich noch – voller Gedanken, voller Verdruß über meine nur düsteren Erinnerungen an die antike Mythologie, aber auch voller Hoffnung.
    Demeter, die Göttin, welcher der heruntergekommene Tempel an dieser einsamen Straße geweiht ist, war die Erdmutter, aber sie war auch die Mutter der Persephone, der von Hades, dem Gott des Todes, entführten Jungfrau, und Demeter begab sich selbst in das Reich des Hades hinab, um ihre Tochter zurückzuholen. An vieles andere kann ich mich nicht mehr erinnern – es kommt mir so vor, als hätte Persephone als Gefangene in der Unterwelt Granatapfelkerne gegessen, so daß ihre Mutter sie nicht wieder ans Tageslicht zurückführen konnte –, aber eine wichtige Sache weiß ich, glaube ich, noch. Die eleusinischen Mysterien – die Mysterien, die der alte Priester bestimmt meinte – waren eine rituelle Fahrt durch den Tod ins Leben, eine religiöse Zeremonie von höchster Bedeutung. Und wenn ich mich recht entsinne, wurden die Teilnehmer durch ein Labyrinth geführt. Ja, da bin ich mir sicher … ein Labyrinth.
    Es gibt viel zu bedenken, aber vielleicht haben wir endlich einen Fingerzeig erhalten, der uns weiterhilft. Wenn ja, dann haben wir das auch Emily zu verdanken – vielleicht verdanken wir ihr unser Leben. Mir tut es jetzt schon leid, daß ich mehr als einmal nur mit Gereiztheit auf sie reagieren konnte.
    Viel zu bedenken. Innere Ordnung habe ich noch nicht geschaffen, aber es kommt mir so vor, als könnte ich die ersten Andeutungen von etwas in der Art erkennen. Mein Gott, ich hoffe bloß, das stimmt!
    Code Delphi. Hmmm. Mein Codewort zur Kennzeichnung dieser Diktate scheint sich als ziemlich … delphisch zu erweisen. Na, jedenfalls …
    Code Delphi. Hier aufhören.«
     
     
    > Obwohl er so tief und bleischwer schlief wie kaum je zuvor in seinem Leben, konnte Paul seinen Träumen nicht entkommen.
    Das Bild schälte sich nach und nach aus dunklerem und verwaschenerem Traumstoff heraus wie eine bunte Koralle,

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