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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Sinneswahrnehmungen ihr das Gegenteil zuschrien. Wenn ich einem von ihnen helfe, setze ich mein eigenes Leben aufs Spiel – und damit das Leben ihrer realen Gefährten und auch ihres Bruders und der anderen verlorenen Kinder. Dennoch kam ihr die Unterscheidung verlogen vor.
    Ein solcher furchtbarer Augenblick war, als ein von hinten durchbohrter Lykier auf sie zutaumelte. Der junge Mann, der Renie erst Minuten vorher noch einen Schluck aus seinem Wasserschlauch angeboten hatte, kam durch das wütende Gefecht geradewegs auf sie zu, als ob er sonst niemand sehen könnte, die Spitze der tödlichen Lanze aus den Rippen ragend, den langen Schaft nachschleifend wie einen erstarrten Schwanz. Mit letzter Kraft hatte er die Hände nach ihr ausgestreckt, das Haltsuchen eines Ertrinkenden, eines Mannes, der in seinem eigenen Blut versank. Renie war schleunigst zurückgewichen, damit er sie nicht packte und wehrlos machte. Der Blick in seinen rasch glasig werdenden Augen hatte sich ihr so tief eingebrannt, daß sie sicher war, ihn niemals vergessen zu können.
    Steht uns das bevor? hatte sie sich mit hilflosem Grauen gefragt. Wird so die Zukunft aussehen? Wir bauen uns Welten, wo alles möglich ist, sehen jeden Tag mit an, wie reale, atmende, schwitzende Menschen vor unsern Augen getötet werden, morden sogar selber welche, und hinterher setzen wir uns zum Abendessen hin, als ob nichts gewesen wäre?
    Was für eine Zukunft erschufen sich die Menschen da? Wie konnte das menschliche Gehirn, ein Organ, das Millionen Jahre alt war, solche irrsinnigen futuristischen Zerreißproben bestehen?
    Der Tag war weiter zäh dahingeschlichen.
    Zum Angriff stürmen, eingekeilt und von hinten geschoben. Ausweichen und ducken, sich nach hinten zurückdrängeln, die ganze Zeit über den Schild gegen den mörderischen Pfeilregen erhoben. !Xabbu und T4b im Auge behalten, nicht vergessen, daß sie das einzig Wirkliche in diesem wüsten Land schreiender Geister sind. Ducken, ausweichen.
    Lanzen hatten hinter Schilden hervor auf sie eingestochen wie unter Steinen verborgene Nattern. Völlig überraschend hatten sich ganze Frontabschitte verschoben, so daß das schlimmste Gemetzel plötzlich hinter ihr tobte statt vor ihr und sie und ihre Freunde all ihrer Umsicht zum Trotz wieder mittendrin im dicksten Gefecht waren.
    Nächste Runde. Ausweichen und ducken. Sich nach hinten zurückdrängeln …
    Und überall ringsumher – Tod. Er war während des langen Tages keine stille Gestalt im Hintergrund, keine blasse Jungfrau, die Erlösung vom Leiden brachte, kein behender Schnitter mit scharfer Sense. Der Tod auf der trojanischen Ebene war eine tolle Bestie, brüllend, reißend, zermalmend, die überall gleichzeitig war und die in ihrem unaufhörlichen Wüten vorführte, daß selbst gepanzerte Männer höchst verletzliche Wesen waren: Im Handumdrehen konnte diese ganze eherne Härte zu Blutdunst und blubbernden Schreien und weichem, zerfetztem Fleisch werden …
     
    Renie setzte sich zitternd auf.
    » !Xabbu ?« Sie brachte nur mühsam einen Ton heraus. »Bist du … bist du wach?«
    Sie fühlte, wie er sich neben ihr regte. »Ja. Ich kann nicht schlafen.«
    »Es war so grauenhaft …« Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, wünschte sich wie ein kleines Kind, wenn sie sie wieder wegnahm, möge all das Fremdartige um sie herum verschwunden sein, die allzu hellen Sterne und ihre schwachen Reflexionen, die tausend Lagerfeuer. »Lieber Himmel, ich dachte eigentlich, diese posttraumatischen Zustände würde man erst Jahre später kriegen.« Ihr verzweifeltes Auflachen löste beinahe einen Weinkrampf aus. »Ich sage mir immer wieder, es ist nicht real … aber wenn doch, wäre es auch nicht schlimmer. Menschen haben sich das wirklich gegenseitig angetan. Menschen tun sich das gegenseitig an …«
    Er suchte und fand ihre Hand. »Ich wünschte, ich wüßte etwas zu sagen. Du hast recht, es war grauenhaft.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß schlicht nicht, wie ich das nochmal durchstehen soll. O Gott, in wenigen Stunden wird es wieder hell sein.« Ein Gedanke schreckte sie auf. »Wo ist eigentlich T4b?«
    »Er schläft.« !Xabbu deutete auf eine schattenhafte Gestalt, die eingerollt ein Stück vom Feuer entfernt lag. Erleichtert wandte sich Renie wieder ihrem Freund zu und stellte dabei verwundert fest, wie rasch sie sich an !Xabbus neuen, menschlichen Körper gewöhnt hatte, wie rasch sich dieses Gefäß mit !Xabbu haftigkeit gefüllt hatte. Das schmale,

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