Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
grauenhafte Szene versperrte die Straße. Paul und Renie drückten sich an eine im Schatten liegende Wand, um Atem zu schöpfen und abzuwarten, bis die Griechen genug hatten und den Weg freimachten.
»Wo sollen wir hin?« fragte er Renie. Er versuchte sich immer wieder zu sagen, daß nichts von alledem real war, aber das half nicht viel. »Hast du eine Idee?«
Sie sah aus, als wollte sie selbst gleich zusammenbrechen. »Bei unserer Ankunft in dieser Simwelt sind wir in einem der Burggärten gelandet. Ich denke, wir sollten uns zur Burg begeben.«
Paul knurrte. »Ja, so wie alle andern Griechen auch.«
»Ich hab ihn umgebracht«, klagte Fredericks wieder.
Paul prüfte Orlandos Atem. »Du hast ihn nicht umgebracht – er ist noch am Leben. Du hast einfach getan, was in deinen Kräften stand.« Er atmete tief aus. »Herrje, ich weiß nicht mehr weiter.«
Auf einmal sprang aus einer Gasse hinter ihnen eine Gestalt und packte Renie am Arm. Sie kreischte auf; Paul stockte das Herz, bevor es wie rasend zu schlagen begann. Er griff hastig nach seinem Schwert.
» !Xabbu !« Renie schlang die Arme um die rußbeschmierte Erscheinung. »Oh … wie schön, dich zu sehen!«
»Wie der Striemenmäuserich das Käfermädchen, so werde auch ich dich immer finden, Renie.« Der Mann lächelte, aber sein Gesicht zeugte von großer Anspannung. »Wie der Honiganzeiger seinen Freund den Honigdachs, so werde auch ich dich zu mir rufen.« Er warf einen raschen Blick auf Orlando, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Fredericks. »Und du bist Fredericks? Wieder da nach so langer Zeit? Ich vermute das deswegen, weil du von euch beiden der etwas Kleinere bist, wie vorher auch.«
Fredericks blickte ihn mit rotgeränderten Augen an; ein Streifen angetrockneten Blutes, den Renie nicht ganz abbekommen hatte, umgab ihre Züge wie der Rand einer Maske. »Ja, ich bin’s, !Xabbu . Aber du warst doch vorher ein Affe.«
Er trat einen Schritt vor und umarmte sie. »Es ist so eine Freude, dich zu sehen, mein Junge. Wie steht es um Orlando?«
»Er stirbt, !Xabbu . Er ist hinter mir hergekommen – dabei wollte ich ihn doch retten! Er hat diesen Hektor getötet!« Sie hielt krampfhaft die Tränen zurück. »Und ich bin gar kein Junge … ich bin ein Mädchen!« Dieses Geständnis war offenbar zuviel. Sie hielt sich den Arm vor die Augen, und ihre Brust zuckte.
»Du kannst sein, was du willst, Fredericks«, sagte !Xabbu sanft. »Ein Junge oder ein Mädchen. Es ist nur gut, dich wiederzusehen.« Er drehte sich zu Renie um und legte ihr eine Hand auf den Arm. Paul staunte, wie sicher er von einer emotionalen Situation zur nächsten wechselte. Er wußte so gut wie nichts über Buschleute, aber es war faszinierend, wie die unerschütterliche Ruhe des Mannes sich durch den Trojanersim zur Geltung brachte.
Er hätte keinen sehr guten antiken Helden abgegeben, ging es Paul durch den Kopf. Nicht genug Sinn für Dramatik. Nicht genug Egozentrik vielleicht.
»Martine und die anderen warten auf uns«, berichtete !Xabbu , »jedenfalls vorhin noch, als ich loszog, aber in dieser Stadt ist man jetzt seines Lebens nirgends mehr sicher. Martine glaubt, sie weiß einen Weg, wie man hinauskommt.«
Renie nickte matt. »Dann wollen wir uns beeilen.«
!Xabbu führte sie von der Hauptstraße hinunter und schräg den Hügel hinauf. Sie kamen nicht schnell voran, weil Orlandos schlaffer Körper mühselig zu tragen war, aber die meisten griechischen Eroberer hielten sich an die großen Straßen und fanden vor allem auf dem gewundenen Weg zur Burg hinauf viele lockende Ablenkungen. Obwohl der Wind das Feuer bereits über einen Großteil der Stadt ausgebreitet hatte und einige Straßen von brennenden Trümmern versperrt waren, begegneten Paul und seine Gefährten nur kleinen Grüppchen griechischer Plünderer; diese warfen dem König von Ithaka einen kurzen Blick zu, winkten fröhlich und gingen weiter ihrem blutigen Geschäft nach.
Auf dem ruckelnden Marsch den Hügel hinauf wurde Orlando wach. Murmelnd und ächzend wehrte er sich mit traumbenommenen Bewegungen gegen den Griff seiner Freunde.
»Wir können ihn so nicht weitertragen«, erklärte Paul, nachdem sie sich noch ein kurzes Stück mit ihm abgeplagt hatten. Er und Renie ließen Orlando zu Boden gleiten. »Der Hügel ist zu steil.«
!Xabbu kam und kniete sich neben den Liegenden. Er legte ihm eine Hand auf die Brust, die andere auf die Stirn. »Wie lautet sein voller Name?« fragte er Fredericks. »Ich
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