Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
umringt von den hohen Wänden seines neuen Palastes – Wände, die schrien und bluteten und flehten –, ließ sich die römischen Gefangenen erst einen nach dem anderen, dann im Laufe des späteren Abends in Gruppen vorführen und jedem irgendeine ausgesuchte Peinigung antun.
    Der alte Stoiker Seneca, der drei Kaiser beraten hatte und in dem viele das personifizierte Gewissen Roms sahen, stand tapfer, aber weinend vor dem Thron des Feindes und schleuderte Hannibal ein Zitat des Euripides ins grinsende dunkle Gesicht: »Zu heillosem Unglück gebar mich die Mutter. Ich beneide die Toten, ich sehne mich zu ihnen.«
    Der Dämon lachte laut darüber und befahl, dem alten Mann Arme und Beine abzuschneiden, damit er sich nicht selbst umbringen konnte, dann ließ er ihn am Fuß seines Throns liegen wie einen Hund und machte ihn zum Zeugen von allem, was noch folgte.
    Tatsächlich gab es am Ende unter den noch Lebenden nicht einen, der nicht die anderen beneidete, die schon getötet worden waren …
     
    Gott sein war harte Arbeit, wurde Dread allmählich klar.
    Er stand im bleichen Sonnenschein vor seinem Thronsaal auf dem Forum und sog prüfend die Morgenluft ein, suchte mit seiner feinen Nase in den Gerüchen von Rauch, Blut und Verwesung noch eine andere, subtilere Witterung, ohne genau zu wissen, welche. Seine Soldaten, zehntausend Spiegelbilder seiner selbst, knieten auf der Via Sacra und warteten stumm auf Befehle. Er schnupperte abermals und wußte nicht so recht, was er vermißte, was ihm die Brise an diesem schönen Frühlingsmorgen zutragen sollte, den der Gestank zahlloser unbestatteter Leichen nur wenig trübte. Vielleicht den Hauch eines Zwecks, einer echten Herausforderung.
    Die Zerstörung um ihrer selbst willen verlor langsam ihren Reiz, fand er, während sein Blick die verkohlten Dächer Roms überflog. Er hatte bereits ein halbes Dutzend von den Lieblingssimulationen des Alten Mannes verwüstet, dazu noch ein paar andere, die sonstigen Herren des Netzwerks gehörten, und langsam wurde ihm der Spaß daran schal. Anfangs war es spannend gewesen – er hatte mehrere Tage lang in Toyland ein planmäßiges Lustmorden veranstaltet und dabei seine grausame Phantasie in einem solchen Maße strapaziert, daß er gegen Ende, als er übersättigt inmitten seines Vernichtungswerks gelegen hatte wie ein Löwe neben seiner Beute, einen nahezu unerhörten Moment des Selbstzweifels gehabt hatte. Er sah sich unversehens vor die Frage gestellt, ob die ausgesuchten Martern, denen er Rotkäppchen und die Jungfer Salome und Hans im Glück unterzogen hatte, ob überhaupt sein ganzes furchtbares Wüten in ihrem Märchenland vielleicht Indiz einer latenten Pädophilie war. Der Gedanke war ihm unangenehm -Leute, die Kinder mißbrauchten, waren Dread immer als ziemliche Jämmerlinge erschienen –, und bei seinem nächsten Projekt, der Ausmerzung einer niedlichen kleinen Comicsimulation von London um 1920, hatte er darauf geachtet, seine abseitigeren Gelüste ausschließlich an Personen zu befriedigen, die eindeutig erwachsen waren. Jetzt aber, etliche Simwelten weiter, nachdem er in dieser letzten Welt die Blüte der römischen Weiblichkeit über Felder und durch brennende Villen gehetzt hatte, bis tapferer Widerstand und weinende Kapitulation gleichermaßen den Kitzel verloren hatten, und nach einem Terrorprogramm, das allmählich zur mechanischen Routine verkam, wurde es Dread endgültig zu langweilig.
    Er griff sich wahllos einen der Dreadsoldaten heraus und drückte ihm eine funktionsunfähige Kopie seines silbernen Stabes in die Hand.
    »Du bist jetzt Hannibal, Sportsfreund«, teilte er seinem Simulakrum mit. »Deine erste Aufgabe ist, daß du die Gladiatoren freiläßt und ihnen allen Messer, Schwerter und Lanzen gibst.« Er runzelte die Stirn. Eigentlich war es ihm egal, zumal er nicht darüber hinwegsehen konnte, daß er bloß mit einer armseligen Kopie von sich selbst redete. »Ach ja, und vernichte alle Nahrungsvorräte. Wenn das getan ist, ziehst du dich mit dem restlichen Heer zurück, und ihr bildet einen Ring um die Stadt. Dann sehen wir mal, was die Überlebenden so treiben.«
    Er wartete die Antwort nicht ab – wozu auch? –, sondern versetzte sich augenblicklich zurück ins Herz des Systems.
     
    Das Problem bestand darin, daß es kinderleicht war, hier alles zu zerstören, aber sehr schwer, das über längere Zeit interessant zu gestalten. Klar, am Anfang war allein die Vorstellung, sich in den atemberaubend

Weitere Kostenlose Bücher