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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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den Toren, wie von einem Gott herbeigezaubert. Jahrhunderte zuvor hatte der Karthager mit seiner Alpenüberquerung die Römer überrumpelt. Diesmal war es den Heeren des Barkiden gelungen, noch heimlicher und überraschender aufzuziehen. Seine Ankunft wurde überhaupt erst ruchbar, als unmittelbar nördlich der Stadt schwarzer Rauch am Himmel aufstieg und die ersten entsetzten Flüchtlinge auf den Hauptstraßen nach Rom strömten. Wenige Stunden später loderten schon vielerorts Brände innerhalb der Stadtmauern und wurden auf dem Marsfeld die Leichen gefallener Bürger geschändet.
    Die Stadt bot wenig Gegenwehr auf. Der Senat war auf die ersten Meldungen von der Invasion hin unverzüglich auf der Via Appia nach Süden geflohen, wobei sich einige Senatoren dadurch hervortaten, daß sie in ihrer Eile andere Flüchtlinge unter den Rädern ihrer Wagen zermalmten. Die angesehensten Männer der Zeit weilten fern von Rom, nicht zuletzt weil es Tigellinus ratsam erschienen war, alle tüchtigen Heerführer Roms möglichst weit zu verstreuen. Und natürlich waren Hannibals alte Feinde Scipio und Marcellus seit Jahrhunderten tot.
    Die Prätorianergarde kämpfte wacker, aber gegen zehntausend heulende Karthager konnte sie wenig ausrichten – Hannibals Heere schnitten auf der Via Triumphalis durch die Elitetruppe wie ein Messer durch weiche Butter. Kaiser Tigellinus wurde mit auf den Rücken gebundenen Armen aus der Domus Aurea geschleift. Hannibal stieg selbst von seinem Rappen und prügelte den Kaiser mit einem Stock zu Tode – eine Art Ehrenbezeigung gewissermaßen.
    Das bizarrste in der ganzen folgenden Woche namenloser Greuel war dabei gar nicht die unfaßbare Tatsache, daß der schreckliche Hannibal von Karthago aus dem Grab erstanden war, sondern daß er darüber hinaus Rom mit einer Streitmacht von Soldaten einnahm, die ihm zum Verwechseln ähnlich sahen – einige Überlebende schworen sogar, alle hätten sich geglichen wie ein Ei dem anderen. Auf jeden Fall stand fest, daß statt des bunt zusammengewürfelten Söldnerhaufens aus Ligurern und Galliern, Spaniern und Griechen, mit denen er in den Tagen der Republik in Italien eingefallen war, diesmal eine seltsame Einheitlichkeit unter seinen Männern zu beobachten war: Einer wie der andere war klein, aber kräftig gebaut und hatte schwarze Haut, lange dunkle Haare und eigentümlich asiatisch geschnittene Augen. Woher sie auch stammen mochten, sie brandschatzten und plünderten und mordeten mit einer derart zügellosen und willkürlichen Grausamkeit, daß einige Römer schon in den ersten Stunden des Angriffs meinten, der Schlund der Erde selbst habe sich aufgetan und dieses Heer von Dämonen ausgespien. Am Ende des ersten Tages hätte ihnen kaum einer mehr widersprochen.
    Die wenigen, die ihn sahen und am Leben blieben, gaben an, Hannibal habe die gleiche dunkle Haut und die schwerlidrigen Augen wie seine Truppen. Außer an seinem goldbeschlagenen Pferd und seinem Banner, so die verängstigten Flüsterstimmen, sei Hannibal von seinen Untertanen nur an dem silbernen Stab zu unterscheiden, den er ständig in der Hand hielt, und daran, daß er allein von seiner ganzen erbarmungslosen Armee die grausigen Vorgänge amüsant zu finden schien. Er lachte, als die jungen Männer aus patrizischen Familien vor ihn gebracht und abgeschlachtet wurden, lachte nicht minder, wenn ihre Schwestern und Mütter um Gnade bettelten, als ob das ganze Gemetzel eine Theatervorstellung einzig zu seinem Vergnügen wäre.
    Er ist kein Mensch, sondern ein böser Gott, raunten sich Überlebende zu, die sich in den Kloaken und Kellern versteckten. Er mag sich Hannibal nennen, aber selbst die Geißel von Cannae war niemals derart bestialisch.
    Als am ersten Tag seiner Eroberung die Sonne sank, rückte der Böse in das Herz der Stadt vor, das Forum Romanum, und errichtete sich dort einen Palast. Fliegen schwirrten zu Millionen über dem Platz und verdunkelten den roten Himmel wie Gewitterwolken. Der Dämon baute die Wände seines Hauses aus aufgetürmten Toten und Sterbenden, die er mit dem Gesicht nach oben auf hohe Holzpfähle spießen ließ, so daß der letzte Blick jedes sein Leben aushauchenden Mannes den nächsten traf, der auf ihn gerammt wurde.
    In der Mitte wollte das Erzungeheuer Hannibal einen Thron aus Schädeln in allen Größen gebaut haben, Schädel, die noch Stunden zuvor die vielfältigen Gedanken lebender Menschen beherbergt hatten. Als der Thron fertig war, nahm er darauf Platz,

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