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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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starrte er eine Weile darauf, bevor ihm klar wurde, was er da sah.
    Es war das wuchtige Eingangstor des Stützpunkts, von einer Kamera im Innern gesehen. Das Tor war offen.
    Auf einmal knallte es irgendwo über Jeremiah dreimal laut. Mit einem Fluch sprang Long Joseph auf und ließ vor Schreck seine Weinflasche auf den Boden fallen. Jeremiah wurde am ganzen Leib eiskalt.
    »Del Ray!« schrie er. »Del Ray, bist du das?«
    Wenigstens dieses eine Mal hielt Joseph den Mund, und sie beide lauschten. Das einzige, was sie hörten, war das Echo von Jeremiahs Stimme.
    »War das sein Revolver?« fragte Joseph in heiserem, nervösem Flüsterton. »Oder hat jemand auf ihn geschossen?«
    Jeremiah war zumute, als ob ihm mit dem Schrei alle Luft aus der Brust gewichen wäre; er konnte nur den Kopf schütteln. In seiner Verwirrung wußte er nicht, ob sie die Lichter ausschalten und sich verstecken sollten. Er drehte sich zu der Konsole um und versuchte, aus den so gut wie einfarbigen Bildern schlau zu werden. Er meinte, hier und da huschende Bewegungen wahrzunehmen, aber deutlich ausmachen konnte er nichts.
    Welches zeigt die obere Etage, auf die Del Ray wollte?
    Schließlich erkannte er die Fahrstuhlnische – nicht den Fahrstuhl selbst, der nur ein dunkler Schatten an der Wand war, sondern das daneben hängende alte Schild, das er schon so viele Male angeschaut hatte, daß er sich manchmal dabei ertappte, wie er die warnende Angabe des maximal zulässigen Transportgewichts still vor sich hinmurmelte.
    Zum erstenmal in all den Wochen, die er jetzt schon in dieser unterirdischen Basis lebendig begraben war, kam ihm der Gedanke: Komisch, daß es an einem Ort mit soviel schwerem Gerät keinen Lastenaufzug gibt, doch im selben Moment sah er schattenhaft ein am Boden ausgestrecktes Beinpaar, vom Bildrand abgetrennt. Es war zu dunkel, um es zweifelsfrei zu erkennen, und dennoch wußte Jeremiah mit furchtbarer Gewißheit, wessen Beine und Füße das waren, die da so still neben der Fahrstuhltür lagen.
     
     
    > Lieber Herr Ramsey,
    gleich bei deinem ersten Besuch bei mir zuhause fand ich, daß du ein sehr netter Mann bist. Ich weiß, daß es wahrscheinlich nicht den Eindruck machte, daß ich mißtrauisch wirkte. Allein daß du mir zugehört hast, ohne deine Gedanken mit deinem Gesicht zu verraten, war eine große Freundlichkeit, denn ich bin sicher, daß du mich für ein verrücktes altes Weib halten mußtest.
    Wenn du dies jetzt liest, wirst du dich in deinem Urteil bestätigt finden. Das stört mich nicht. Als ich anfing alt zu werden, verunsicherte es mich, daß die Männer mich nicht mehr so anschauten wie früher. Ich war nie besonders hübsch, aber ich war auch einmal jung, und dann schauen die Männer. Als das aufhörte, litt ich ein wenig, aber ich dachte, wenigstens werden sie mich jetzt ernst nehmen. Als mir diese ganzen Geschichten passierten, die Kopfschmerzen und die Probleme und meine Befürchtungen wegen dieser Tandagorekrankheit, hörten die Leute sogar auf, mich zu behandeln, als ob ich ein Gehirn im Kopf hätte. Doch du hast mich wie einen normalen Menschen behandelt. Du bist ein netter Mann, ich habe mich nicht in dir getäuscht.
    Ich habe mir etwas vorgenommen, das schwer zu erklären ist, und wenn ich mich irre, werde ich wohl im Gefängnis landen. Wenn ich recht habe, wird man mich wahrscheinlich umbringen. Ich wette, du wirst sagen, daß es leichter ist, eine Behauptung aufzustellen, als sie zu beweisen.
    Aber diesen Brief schreibe ich, weil ich dir sagen möchte, daß ich mir zumindest nicht verrückt vorkomme, auch wenn ich es vielleicht hin, und daß ich mir darüber im klaren bin, wie sehr mein Vorhaben wider alle Vernunft ist. Aber wenn du die Stimmen hören würdest, die ich in meinem Kopf höre oder wenigstens gehört habe, würdest du nicht anders handeln als ich. Das weiß ich, weil ich spüre, was für ein Mensch du bist.
    Bevor ich weitererzähle, fällt mir noch etwas anderes ein, das ich dir sagen möchte. Mir ist jetzt sehr leicht zumute, so als hätte ich einen schweren Mantel ausgezogen und spazierte durch den Schnee. Kann sein, daß ich später erfriere, aber im Moment bin ich bloß froh, das lästige Gewicht vom Buckel zu haben. Mit dem Gewicht meine ich die übliche höfliche Fassade, und deshalb will ich dir jetzt die Wahrheit sagen. Ich will dir etwas sagen, was ich sonst niemals über die Lippen gebracht hätte. Du solltest heiraten. Du bist ein guter Mensch, der zuviel arbeitet, immer im

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