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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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an die Geschichte erinnern«, wehrte Martine ab.
    »Aber ich.« Florimel rutschte ein Stückchen vom Feuer weg. In den Teppich gemummt und mit dem notdürftigen Verband über ihrem Auge und der dazugehörigen Kopfhälfte sah sie mehr denn je wie eine mittelalterliche Hexe aus.
    Komisch, dachte Paul, wo doch Martine die Hexe der Gruppe ist. Der Einfall war merkwürdig, aber deswegen um nichts weniger treffend.
    »Ich werde sie so erzählen, wie ich sie in Erinnerung habe.« Die Deutsche blickte finster in die Runde, wodurch sie noch einschüchternder wirkte als ohnehin schon. »Gemerkt habe ich sie mir nur, weil meine Tochter sie – und mehrere andere aus dieser Märchensammlung von Gurnemanz – viele, viele Male hören wollte, also unterbrecht mich nicht, sonst komme ich aus dem Erzählfluß und vergesse Teile. Martine, ich bin sicher, sie wird anders sein als die Version, die du kennst, aber darüber reden wir später, einverstanden?«
    Paul sah den Anflug eines Lächelns über das Gesicht der Blinden huschen. »Einverstanden, Florimel.«
    »Gut.« Sie strich ihre feuchten, aber trocknenden Kleider zurecht und öffnete den Mund, dann schloß sie ihn wieder und funkelte T4b an. »Und die Stellen, die du nicht verstehst, erkläre ich hinterher. Ist das klar, Javier? Wenn du mich unterbrichst, schmeiß ich dich raus in den Schnee!«
    Paul rechnete mit einer zornigen oder wenigstens entrüsteten Reaktion, aber der junge Bursche schaute amüsiert drein. »Chizz. Meckersäcke schrotten. Ich hör schon zu.«
    »Schön. Also, soweit ich mich erinnere, ging das Märchen so.«
     
    »Es war einmal ein Junge, der war der Augenstern seiner Eltern. Sie liebten ihn innig, und damit ihm auch ja nichts Böses widerfuhr, besorgten sie ihm einen Hund als Gefährten. Den Hund nannten sie Nimmermüd, und er war wachsam und treu.
    Doch auch die Liebe zweier Eltern und die Gnade Gottes ist keine Gewähr gegen Unglück. Eines Tages, als sein Vater draußen bei der Feldarbeit war und seine Mutter mit den Vorbereitungen fürs Abendessen beschäftigt, entfernte sich der Junge weit von zuhause. Nimmermüd wollte ihn aufhalten, der Junge aber gab dem Hund einen Klaps und schickte ihn fort. Der Hund lief die Mutter des Jungen holen, und sie machte sich auf, ihn zu suchen, doch bevor sie ihn finden konnte, fiel der Junge in einen verlassenen Brunnen.
    Ganz lange stürzte und rollte und überschlug sich der Junge, und als er endlich am Grund des Brunnens aufkam, befand er sich in einer Höhle tief in der Erde, neben einem unterirdischen Fluß. Als die Mutter sah, was geschehen war, lief sie und holte ihren Mann, doch kein Seil, das sie im Hause hatten, reichte bis auf den Grund. Sie riefen alle anderen Bewohner ihres Dorfes zusammen, aber auch als sie sämtliche Seile zusammengebunden hatten, kamen sie damit nicht in die Tiefe, wo der Junge saß.
    Die Eltern riefen zu dem Jungen hinunter, er müsse tapfer sein, sie würden schon einen Weg finden, ihn aus dem tiefen, tiefen Loch herauszuholen. Er hörte sie und schöpfte etwas Mut, und als sie ihm etwas zu essen hinunterwarfen, in Blätter gewickelt, um den Fall zu dämpfen, da schien ihm doch noch nicht alles verloren.
    Doch tief in der Nacht, als seine Eltern und die andern Dorfbewohner sich endlich schlafen gelegt hatten, da fühlte der Junge sich wieder ganz allein am Grund des Brunnens, und er weinte und betete zu Gott.
    Niemand war noch wach außer Nimmermüd, und als der treue Hund seinen kleinen Herrn weinen hörte, rannte er los, um in der weiten Welt jemanden zu finden, der dem Jungen im Brunnen helfen konnte.
    Die Eltern warfen ihm jeden Tag zu essen hinunter, und trinken konnte er aus dem unterirdischen Fluß, aber dennoch war er traurig und einsam, und allnächtlich, wenn er sich unbelauscht wähnte, weinte er. Da sein Hund Nimmermüd unterwegs war, Hilfe suchen, gab es niemand mehr, der ihn hörte – niemand als den Teufel, denn der wohnt ja tief in der Erde. Der Teufel kann aber kein fließendes Wasser überqueren, und so konnte er sich den kleinen Jungen nicht greifen und mit hinab in die Hölle nehmen, doch er stellte sich in der Dunkelheit auf die andere Seite des Flusses und quälte den Jungen, indem er ihm vorlog, seine Eltern hätten ihn vergessen, alle oben am Licht hätten längst die Hoffnung aufgegeben, ihn herausholen zu können. Das Weinen des Jungen wurde immer heftiger, bis ein Engel ihn hörte und ihm in der Dunkelheit in Gestalt einer bleichen schönen Frau

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