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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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die Geschichte dazu, das weckt in mir Erinnerungen an eine sehr schlimme Zeit in meinem Leben.« Sie hob die Hände, um Mitleidsbekundungen von vornherein abzuwehren. »Aber das nicht allein. Außerdem hat es mich zum Nachdenken gebracht.«
    »Über das Lied?« fragte Paul.
    »Über alles. Über Kunoharas Bemerkung, die Ursache für das eigenartige Verhalten des Betriebs… äh, des Andern könnte sein, daß ich ihm seinerzeit eine Geschichte erzählt habe. Aber ich glaube, das ist zu simpel. Viele der Kinder dort im Institut müssen ihm Geschichten erzählt haben, und auch von mir hat er bestimmt noch andere Märchen gehört. Geschichtenerzählen war eine der Sachen, zu denen wir von den Ärzten angehalten wurden, vielleicht als Maßstab für unsere Gedächtnisleistung und unsere geistige Aufgewecktheit überhaupt. Falls das Betriebssystem und seine wachsende Intelligenz gerade von diesem einen Märchen beeinflußt wurde, dann schwerlich deshalb, weil es keine anderen Geschichten zu hören bekam, keine anderen Lieder.«
    Paul blinzelte. Müdigkeit überkam ihn wie eine große Welle. Nach den Gefahren in Kunoharas Insektenwelt und ihrer Flucht auf dem Fluß spürte er erst jetzt, wie erschöpft er wirklich war. »Entschuldige, aber das verstehe ich nicht.«
    »Ich denke, es hat sich diese Geschichte deswegen zu Herzen genommen, wenn ich mal so sagen darf, weil sie mehr als jede andere etwas in ihm berührt hat.« Auch Martine machte einen müden Eindruck. »Der Andere muß sich und seine Situation am stärksten in ihr wiedergefunden haben.«
    »Willst du behaupten, daß er sich für einen kleinen Jungen hält?« fragte Florimel mit einem Ton bitterer Belustigung in der Stimme. »Einen kleinen Jungen mit einem Hund? In einem Loch?«
    »Vielleicht, aber das ist ziemlich simplifizierend ausgedrückt.« Martine ließ den Kopf hängen. »Sei bitte so gut und laß mich laut denken, Florimel. Ich habe nicht die Kraft, große Debatten zu führen.«
    Die andere Frau wurde ein wenig rot, dann nickte sie. »Sprich.«
    »Kann sein, daß er sich nicht für einen Jungen hält, ein menschliches Kind, aber wenn er wirklich eine künstliche Intelligenz ist, die es in bestimmter Hinsicht fast bis zum Menschen gebracht hat, dann stellt euch mal seine Gefühle vor. Wie sagte Dread neulich auf dem Berg, wo er als Riese erschien? ›Das System wehrt sich noch, aber ich weiß jetzt, wie man ihm weh tut.‹ Eine Metapher … oder nicht? Vielleicht hat das System mit seiner zunehmenden Individualität ja Sachen gemacht, die den Gralsbrüdern nicht recht waren, und sie mußten dem dann mit etwas Einhalt gebieten, das es als Schmerz empfand.«
    Paul sah plötzlich das albtraumhafte Bild des gegen seine Fesseln ankämpfenden Andern wieder vor sich, eine gepeinigte, prometheische Gestalt. »Es hält sich für einen Gefangenen.«
    »Für einen Gefangenen im Dunkeln. Ja, vielleicht.« Martine holte tief Luft. »Es sieht sich als einen, der ohne jeden Grund grausam bestraft wird – so wie auch der Teufel die Menschen aus reiner Lust daran quält, ihnen Leid zu bereiten. Und so sitzt es seit vielen Jahren – dreißig bestimmt, vielleicht mehr – in seiner Dunkelheit und hofft darauf, daß es eines Tages von seiner Qual erlöst und freigelassen wird, und es singt ein Lied, das ein kleiner Junge auf dem Grund eines tiefen, schwarzen Brunnens singt.« Ihr Gesicht verzog sich plötzlich, wurde bitter und kummervoll. »Ein schrecklicher Gedanke, nicht?«
    »Du meinst, es hat diese Dinge … gegen seinen Willen getan?« fragte Florimel. »Was es meiner Eirene und den andern Kindern angetan hat, euerm Freund Singh – zu alledem wurde es gezwungen, wie ein Sklave? Wie ein wehrpflichtiger Soldat?« Sie schaute bestürzt. »Das kann man sich kaum vorstellen.«
    »Liebe Güte, der Engel!« Paul verschlug es den Atem. »In dem Märchen. Ist das der Grund … weshalb Ava in dieser Gestalt erscheint? Weil der Andere in ihr einen Engel sieht?«
    »Vielleicht.« Martine zuckte mit den Schultern. »Oder weil er sich eine menschliche Frau, die nicht zu den Legionen seiner Quälgeister gehört, nicht anders vorstellen kann. Hinzu kommt auch noch das Bild des Flusses – und der ist uns allen inzwischen mit Sicherheit vertraut.«
    »Doch selbst wenn du recht hast, was nützt es uns?« brach Florimel ein längeres Schweigen. »Der Andere ist geschlagen, wenigstens der denkende Teil. Dread hat das System in seine Gewalt gebracht. Seht euch nur mal um: das Bagdad von

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