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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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erschien.
    ›Gott wird dich schützen‹, sprach die Engelfrau zu dem Jungen und küßte ihn auf die Wange. ›Begib dich in den Fluß, und alles wird gut werden.‹
    Der Junge tat wie geheißen, und als er naß und zitternd wieder herauskam, sang er ein Lied, das ging: ›Ein Engel hat mich angerührt, ein Engel hat mich angerührt, der Fluß hat mich gewaschen und mich rein und hell gemacht.‹
    In der zweiten Nacht sandte der Teufel aus den finsteren Tiefen eine Schlange, die den Jungen angriff, doch Nimmermüd hatte einen Jäger gefunden, einen tapferen Mann mit einem guten Gewehr, und ihn zum Rand des Brunnens gebracht. Der Jäger konnte zwar den Jungen nicht aus der Tiefe heraufholen, aber mit seinen scharfen Augen sah er die Schlange gekrochen kommen und tötete sie mit einem Schuß, und da war der Junge vor der Gefahr gerettet. Wieder sprach er seine Gebete, stieg in den Fluß und sang beim Herauskommen: ›Ein Engel hat mich angerührt, ein Engel hat mich angerührt, der Fluß hat mich gewaschen und mich rein und hell gemacht.‹
    In der nächsten Nacht ließ der Teufel den Jungen von einem Geist angreifen. Nimmermüd aber hatte einen Priester an den Rand des Brunnens gebracht. Der Priester konnte zwar den Jungen nicht aus der Tiefe heraufholen, doch als er den Geist kommen sah, warf er seinen Rosenkranz hinunter und trieb damit den Geist in die Hölle zurück. Der Junge sprach ein Dankgebet und stieg in den Fluß, und beim Herauskommen sang er wieder: ›Ein Engel hat mich angerührt, ein Engel hat mich angerührt, der Fluß hat mich gewaschen und mich rein und hell gemacht.‹
    In der Nacht darauf schickte der Teufel alle Heerscharen der Hölle gegen den Jungen aus, aber Nimmermüd hatte ein Bauernmädchen an den Rand des Brunnens gebracht. Es sah nicht so aus, als ob sie gegen alle Heerscharen der Hölle irgend etwas ausrichten könnte, doch in Wahrheit war sie gar kein Bauernmädchen, sondern der Engel, der ihm eingangs geholfen hatte, und als sie mit einem feurigen Schwert in der Hand in den Brunnen hinabflog, wichen die höllischen Heere vor Furcht zurück.
    ›Gott wird dich schützen‹, sagte der Engel zu dem Jungen und küßte ihn auf die Wange. ›Begib dich in den Fluß, und alles wird gut werden.‹
    Der Junge ging ins Wasser, doch als er wieder herauskommen wollte, hob die Engelfrau die Hand und schüttelte den Kopf. ›Gott wird dich schützen‹, sprach sie. › Alles wird gut werden.‹
    Da erkannte der Junge, was er tun sollte, und statt aus dem Wasser zu steigen, ließ er sich vom Fluß mitnehmen. Er trieb lange durch völlige Finsternis, doch immer noch fühlte er den Kuß des Engels, der ihm Wärme und Sicherheit einflößte, und als er zuletzt wieder ins Helle kam, da war es das Licht des Paradieses, das von Gottes Angesicht ausstrahlt. Und bald darauf gesellten sich sein Hund Nimmermüd und seine beiden liebenden Eltern zu ihm, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch dort.«
     
    »Ein paar Sachen stimmen sicher nicht ganz«, sagte Florimel, nachdem sie alle eine Weile schweigend dem Knacken und Zischen des Feuers gelauscht hatten. »Aber das ist ungefähr die Geschichte, die ich so viele Male meiner … meiner Eirene vorgelesen habe.« Sie verzog das Gesicht und rieb sich ihr gutes Auge. Zwischen Mitgefühl und Höflichkeit hin- und hergerissen, blickte Paul zur Seite.
    »Du wolltst noch was zu den Stellen sagen, die unklar sind, nicht?« meldete sich T4b.
    »Welche Stellen sind dir denn unklar?«
    »Alle.«
    Florimel lachte schnaubend. »Das sagst du bloß aus Witz. Du bist nicht dumm, Javier, und das ist ein Märchen für Kinder.«
    Er zuckte mit den Achseln, aber erhob keine Einwände. Paul fragte sich, ob der verstockte Teenager langsam menschlichere Seiten entwickelte. Vielleicht zeigte die schlichte Tatsache Wirkung, daß er keinen Panzer mehr anhatte.
    »War das ungefähr so, wie du es in Erinnerung hast, Martine?« fragte Florimel. »Dasselbe Märchen? Martine?«
    Die blinde Frau riß den Kopf hoch, als erwachte sie aus einem Traum. »Oh, entschuldige, ja, es ist im großen und ganzen gleich, denke ich – es ist so lange her. Ein paar kleine Unterschiede gibt es. Der Hund in meiner Version damals hieß irgendwas wie ›Schläft-nie‹, und der Jäger war, glaube ich, ein Ritter…« Sie murmelte etwas, wie immer noch in Selbstgespräche vertieft. »Es tut mir leid«, sagte sie nach ein paar Sekunden, »aber … aber das jetzt wieder zu hören, das Lied und

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