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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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meisten um die Zeitverschwendung leid. Man kommt sich vor, als müßte man zu Fuß Hunderte von Kilometern auf Eisenbahnschienen tippeln, während auf den Gleisen daneben die Züge vorbeibrausen. Ein komplettes System zur blitzschnellen Beförderung, aber wir können es nicht nutzbar machen.«
    In der Hoffnung, irgendwo ein Gateway zu finden, hatten sie noch mehrere tief verschneite arabische Paläste durchforscht, aber ohne Erfolg. »Wenn wir nur genug von dieser Gegend sehen könnten, um uns zu orientieren«, klagte Paul wie schon mehrmals zuvor, »dann könnten wir wahrscheinlich die Stellen erkennen, wo die Durchgänge normalerweise versteckt sind.«
    »Oh, chizz«, sagte T4b. »Tolle Idee, im Schnee zu buddeln wie so Hunde. Kannste nullen.«
    »Wir haben bereits eine Entscheidung gefällt.« Martines Atemfahne war das einzige sichtbare Zeichen, daß sie etwas gesagt hatte. Wie die anderen auch war sie derart in Decken eingemummelt, die sie aus den vereisten Phantasieschlössern mitgenommen hatten, daß ihr Gesicht fast vollkommen verhüllt war. Paul fand, sie sahen alle aus wie Wäschehaufen, die in die Maschine kommen sollten. »Wir fahren bis zum Ende des Flusses. Wenigstens wissen wir, daß wir da eines finden.«
    »Ich wollte keine neue Diskussion darüber anzetteln.« Paul starrte deprimiert auf das vor ihm liegende lange Band des schwarzen Flusses. »Ich hab bloß … an Renie und die andern gedacht… und bin mir so nutzlos vorgekommen …«
    »Es geht uns allen genauso«, versicherte ihm Martine. »Und einigen von uns geht es noch schlimmer.«
     
    Vielleicht lag es daran, daß der Nebel dichter wurde, vielleicht daran, daß das dunkle, kalte Wasser das normale Leuchten dämpfte, jedenfalls waren sie auf einmal völlig unverhofft da.
    »Op an«, sagte T4b. »Im Wasser ums Boot rum – das blaue Licht!«
    »Mein Gott«, ächzte Martine. »Bloß nicht noch einmal eine Durchfahrt auf dem Fluß. Schnell an Land!«
    Mit ihren behelfsmäßigen Paddeln, schön geschnitzten Zierleisten, die sie in den leeren Palästen von Schränken und Truhen abgebrochen hatten, kämpften sie gegen die träge Strömung an. Als der Bug des kleinen Bootes auf Grund lief, wateten sie durch das eiskalte Wasser ans Ufer, wobei sie mehrere kostbare Decken einbüßten.
    »Ich will dich ja nicht drängen, Martine«, meinte Paul vor Kälte zitternd, »aber wenn das zu lange dauert, frieren uns die Füße ab.«
    Sie nickte geistesabwesend. »Wir sind direkt am Rand der Simulation. Ich versuche die Durchgangsinformationen zu finden.« Der Fluß und seine Ufer verschwanden wenige hundert Meter vor ihnen im Dunst, aber durch irgendeinen Trick in der Programmierung der Simwelt hatten sie Durchblicke auf größere Fernen, die den Eindruck erweckten, daß es dahinter weiterging. Paul fragte sich, was hier wohl zu sehen gewesen war, bevor Dread die Landschaft mit einem arktischen Winter überzog – die Illusion unendlicher Wüste?
    »Ich glaube, ich hab’s«, verkündete Martine schließlich. »Zieht das Boot neben uns mit, damit wir es nicht verlieren. Wir müssen alle vorwärtsgehen.«
    Sie folgten ihrer kleinen, vermummten Gestalt durch die Schneewehen wie eine Gruppe verirrter Bergsteiger, die sich dicht an ihren Sherpa hielt. T4b kam am langsamsten voran, da ihm die Aufgabe zugefallen war, das kleine Boot an einem Seil gegen die Strömung zu ziehen. Er hatte sich die Fahrt über größtenteils still verhalten und sie so selten mit seiner sonstigen Klagelitanei genervt, daß Paul sich fragte, ob der junge Mann vielleicht einen Persönlichkeitswandel durchmachte.
    Auf einmal mußte Paul an einen jungen Soldaten aus seiner Einheit denken, einen Burschen aus Cheshire mit einem schmalen Mädchengesicht und der Angewohnheit, von zuhause und seiner Familie zu erzählen, als ob alle in den Schützengräben seine Angehörigen kannten und unbedingt hören wollten, was sie gesagt und gedacht hatten. Das erste schwere Bombardement hatte ihn zum Verstummen gebracht. Nachdem er mit eigenen Augen gesehen hatte, was die Deutschen mit ihnen allen machen wollten, wurde er so wortkarg wie der eingefleischteste Misanthrop an der Front.
    Sechs Wochen später war er im Granatenfeuer beim Bois-de-Savy umgekommen. Soweit Paul sich erinnern konnte, hatte er die Tage vorher kein Wort mehr gesprochen.
    Abrupt wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Martine war vor ihm stehengeblieben und erforschte die treibenden Nebelschwaden mit ihren blinden Augen, als läse sie

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