Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
rollte sich herum und blickte mit nassem Gesicht und todunglücklichen Augen zu dem sonderbaren grauen Himmel auf. »Ich will nicht, Renie! Ich kann nicht – und wenn du mir beide Arme brichst! Er ist ein Mörder. Er hat Orlando umgebracht!«
    Renie zählte im stillen bis zehn, bevor sie antwortete. »Hör zu, Sam, ich hab mich von dir anbrüllen lassen, ich hab mich sogar von dir schlagen lassen und nicht zurückgeschlagen, obwohl ich es liebend gern getan hätte. Meinst du, das ist ein tolles Gefühl?« Sie betastete ihren empfindlichen Kiefer. »Wir haben alle viel durchgemacht. Aber wir werden mit diesem alten Scheusal mitgehen, weil es sein muß, und ich werde dich nicht hier zurücklassen. Basta. Also, willst du mich zwingen, dich zu fesseln und dich von diesem gottverdammten Berg runterzutragen, erschöpft wie ich bin?« Erst da merkte sie, daß sie tatsächlich hundemüde war, und sie ließ sich neben dem Mädchen zu Boden sinken. »Willst du mir das wirklich antun?«
    Sam sah sie eindringlich an, sichtlich um Selbstbeherrschung bemüht. Sie atmete schwer und mußte warten, bis sie reden konnte. »Tut mir leid, Renie. Aber der Gedanke, daß wir mit… mit diesem …«
    »Ich weiß. Ich hasse das Schwein, ich würde ihn am liebsten eigenhändig den Berg runterschmeißen. Aber wir werden uns mit Felix Jongleur arrangieren müssen, bis wir einen besseren Durchblick haben. Gibt es nicht ein altes Sprichwort, sowas wie, man soll seine Freunde möglichst nahe bei sich haben und seine Feinde noch näher?« Sie drückte das Mädchen am Arm. »Dies hier ist ein Krieg, Sam. Nicht bloß ein einzelnes Gefecht. Sich diesem schrecklichen Kerl auszusetzen … Mensch, das ist ungefähr so, wie wenn man ein Spion hinter den feindlichen Linien ist. Wir müssen es tun, weil wir ein weitergehendes Ziel verfolgen.«
    Sam konnte Renies Blick nicht halten und schlug die Augen nieder. »Chizz«, sagte sie nach längerem Schweigen, aber sie hörte sich an wie der Tod. »Ich probier’s. Aber reden werd ich nicht mit ihm.«
    »Prima.« Renie rappelte sich auf. »Komm jetzt. Ich hab dich nicht nur deswegen mitgenommen, um allein mit dir zu reden. Wir müssen immer noch …« Sie verstummte, als eine Gestalt langsam um eine der abgebrochenen Felsnadeln trat, die das augenfälligste Merkmal der wüsten Landschaft waren. Der gutaussehende junge Mann, der vor ihnen stand, sagte nichts, sondern starrte sie nur mit leeren Augen an wie ein Goldfisch im Glas.
    »Was willst du, zum Teufel?« fuhr Renie ihn an.
    Der dunkelhaarige Mann reagierte eine Weile nicht. »Ich … bin Ricardo Klement«, sagte er schließlich.
    »Das wissen wir.« Nur weil er einen Hirnschaden hatte, war er Renie noch lange nicht sympathischer geworden. Bevor die Zeremonie fehlgeschlagen war, hatte er genauso zu den Gralsmördern gehört wie Jongleur. »Geh weg! Laß uns allein!«
    Klement blinzelte träge. »Es ist gut… am Leben zu sein.« Nach einer weiteren Pause drehte er sich um und verschwand zwischen den Felsen.
    »Das ist so voll gräßlich«, sagte Sam schwach. »Ich … ich will nicht mehr hier sein, Renie.«
    »Ich auch nicht.« Renie tätschelte ihr die Schulter. »Deshalb müssen wir weitermachen, einen Weg hier raus finden. Egal, was ist, wir dürfen nicht aufgeben.« Sie nahm Sam am Arm und drückte noch einmal, damit das auch wirklich zu ihr durchdrang. »Egal, was ist. Jetzt komm, Mädchen, schwing dich auf! Wir müssen Steine suchen gehen.«
     
    !Xabbu baute derweil aus den Steinen, die sie schon gesammelt hatten, eine Mauer um Orlandos nackten Sim, die allerdings mehr nach einem Sarg ohne Deckel als nach einem Grabhügel aussah. Wie die ganze Szenerie auf dem schwarzen Berg veränderten sich auch die künstlichen Steine nach und nach: Mit jeder Stunde, die verstrich, glichen sie immer weniger dem, was sie darstellen sollten, immer mehr einer flüchtig hingeworfenen 3D-Skizze. Orlandos Achillessim jedoch hatte sich seine fast übernatürliche Wirklichkeitstreue bewahrt; wie er da in dem improvisierten Grab lag, ähnelte er tatsächlich einem gefallenen Halbgott.
    Beim Anblick der leeren Hülse ihres Freundes mußte Sam abermals weinen. »Er ist in echt tot, stimmt’s? Ich wünsch mir immerzu, daß es nicht wahr ist, aber so geht’s wahrscheinlich jedem in so einer Situation, was?«
    Renie mußte an die grauenhaft trostlosen Monate nach dem Tod ihrer Mutter denken. »Ja, so geht’s einem. Du siehst ihn immer noch vor dir, hörst ihn, und doch ist

Weitere Kostenlose Bücher