Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
jetzt«, sagte Renie zu ihr. »Sam? Hörst du?«
    Mit einem Anflug von Zornesröte im Gesicht blickte das Mädchen auf. »Du bist nicht meine Mutter, tick?«
    Renie seufzte. »Nein, bin ich nicht. Aber ich bin eine Erwachsene, und ich mein’s gut. Und falls du deine Mutter jemals wiedersehen willst, mußt du fit und gesund bleiben.«
    Sams Miene wurde weicher. »’tschuldigung. Tut mir leid, daß ich so dämlich bin. Ich … wünsch mir nur noch, daß das alles bald vorbei ist. Ich will nach Hause.«
    »Wir tun, was wir können. Leg dich ein Weilchen hin, selbst wenn du nicht schläfst.«
    »Chizz.« Sie streckte sich neben Orlandos Körper aus und schloß die Augen, eine Hand an das niedrige Mäuerchen gelegt. Renie durchfuhr ein abergläubischer Schauder, als sie das sah.
    Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, dachte sie, wie das damals war, als es noch ein normales Leben gab.
     
    Ungefähr eine Stunde war vergangen, und !Xabbu und Sam schliefen beide tief und fest, ungefähr so, wie früher ihr Bruder Stephen nach einem langen Tag kindlicher Hyperaktivität geschlafen hatte. Sam schnarchte leise, und Renie hatte Skrupel, sie zu wecken. Das Verlangen nach einer Zigarette kam kurz in ihr auf, und sie stellte verwundert fest, daß es lange her war, seit sie zum letztenmal ans Rauchen gedacht hatte.
    Weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, am Leben zu bleiben, sagte sie sich. Sehr effektiv, aber es muß einfachere Methoden geben, es sich abzugewöhnen.
    Jongleur saß etwa zehn Meter entfernt mit dem Rücken an einem Felsen und schien ebenfalls zu schlafen, jedenfalls war ihm der Kopf auf die Brust gesunken, und er hatte die Augen geschlossen. Renie fand, daß er wie ein Geier aussah, der mit der Geduld von Jahrmillionen blinder Evolution darauf wartete, daß jemand starb. Das fünfte Mitglied des unfreiwilligen Bundes, Ricardo Klement, war nicht wieder aufgetaucht, und obwohl Renie nicht wohl bei der Vorstellung war, daß er irgendwo auf dem Gipfel herumwanderte und weiß Gott was für Gedanken durch sein lädiertes Gehirn zuckten, war es besser, als ihn ständig anschauen zu müssen.
    Es war der Berggipfel selbst, der jetzt Renies Aufmerksamkeit beanspruchte. Trotz allem, was hier geschehen war, trotz aller Sorgen, die sie und !Xabbu sich wegen seiner fortschreitenden Zersetzung machten, hatte sie ihn sich im Grunde noch nicht sehr genau angesehen. In dem unveränderlichen, richtungslosen Licht ließ sie ihren Blick über das schroff gezackte Gelände schweifen.
    Der Berg verlor nicht nur an Form und Kontur, sondern auch an Farbe – oder vielleicht war es zutreffender zu sagen, daß er eine gewisse Farbigkeit gewann, da er ursprünglich einheitlich schwarz gewesen war. Der dunkle, stumpfe Ton der Erde unter ihr hatte sich nicht allzusehr verändert, aber die ungleichen steinernen Spitzen und Säulen waren nicht mehr so tiefschwarz und sahen aus, als ob jemand Wasser auf eine Tuschzeichnung gesprengt hätte, bevor sie ganz trocken war. Manche der Felszacken hatten sich nur zu einem dunklen Grau aufgehellt, doch bei anderen kamen dünne Streifen anderer Farbtöne zum Vorschein, violette und mitternachtsblaue und hier und da sogar andeutungsweise ein dunkelbrauner, der an getrocknetes Blut erinnerte.
    Aber das widerspricht jeder Logik, sagte sich Renie. Virtuelle Landschaften degenerieren nicht auf die Art. Falls sie nicht einfach unbegehbar werden, kann es passieren, daß ein paar Komponenten länger weiterfunktionieren als andere und man mit dem Realitätsverfall einen Effekt wie eine schematische Zeichnung oder ein Drahtgerüst kriegt, aber die Farbe verbleicht nicht einfach. Die Umrisse verschwimmen nicht. Es ist verrückt.
    Aber es war, wie es war, und war denn irgend etwas nicht verrückt gewesen, seit sie mit dem alten Häcker Singh in dieses Tollhaus von einem virtuellen Universum eingedrungen waren? Nichts hier verhielt sich so, wie normaler Code es sollte.
    Renie spähte genauer hin. Der Berggipfel wirkte ganz real, in mancher Hinsicht sogar mehr als am Anfang, aber es gab keinen Zweifel, daß die Formen an Schärfe verloren. Einige der steil aufragenden Spitzen waren mittlerweile kaum mehr als Kleckse, und an anderen Stellen hatten die steilen Einschnitte im Ring des Tales angefangen, an den Rändern wie Pudding einzusinken.
    Es ist keine natürliche Landschaft – es war überhaupt nie eine. Je länger sie sich die nackten Vertikalen des Gipfels und den schmierigen grauen Himmel besah, leblos wie eine

Weitere Kostenlose Bücher