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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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nehmen.« Sie versuchte zu lächeln. »Aber er spricht oft mit mir. Wenn er wüßte, wie seine Angestellten mich behandeln, wäre er bestimmt sehr böse.«
    Paul setzte sich zurück, um das alles erst einmal zu verdauen. Er war nur ein einziges Mal in den Genuß einer persönlichen Unterhaltung mit Jongleur gekommen – natürlich per Bildschirm – und war sich dabei ziemlich sicher gewesen, daß der propere Mittsechziger, der ihn scharf nach Gewohnheiten und Betragen seiner Tochter ausgefragt hatte, keine wirklichkeitsgetreue Darstellung war: Keine Verjüngungstechnik der Welt konnte mehr als hundert Jahre aus einem Gesicht wegzaubern. Wie dem auch sein mochte, daß der Mann vor seinen Angestellten die Fassade aufrechterhalten wollte, fand er noch verständlich – aber vor seiner eigenen Tochter?
    »Ist er dich jemals besuchen gekommen? Er selber? Persönlich?«
    Sie schüttelte den Kopf, blickte weiter unverwandt auf das von den Blättern gefilterte Licht.
    Das ist das Hinterletzte. Geister. Ein Vater, der nur im Spiegel erscheint. Was in drei Teufels Namen habe ich in einem solchen Irrenhaus verloren?
    »Wir müssen zurück!« erklärte er. »Ob jemand uns sehen kann oder nicht, wir sind auf jeden Fall schon zu lange zur Unterrichtszeit hier draußen.«
    »Die können uns bespitzeln, wie sie wollen«, erwiderte sie unbekümmert, »sie werden nur eine Schulstunde im Freien sehen, bei der Sie … du mir etwas vorliest und ich mitschreibe.« Sie grinste. »Das hat mir mein Freund versprochen.«
    »Trotzdem.« Er stand auf. »Das ist mir alles ein bißchen zu abenteuerlich, Ava.«
    »Aber ich will mit dir reden«, sagte sie, und wieder wurden ihre Augen weit und ihre Miene geradezu flehend. »Wirklich reden. Geh nicht weg, Paul! Ich … ich bin auch einsam.«
    Sie hatte, merkte er plötzlich, seine Hand gefaßt. Unschlüssig ließ er sich von ihr zurück ins Gras ziehen. »Worüber willst du denn reden, Ava? Ich weiß, daß du einsam bist, ich weiß, daß dieses Leben schrecklich für dich ist, zum Teil. Aber ich kann nichts daran ändern. Ich bin nur ein Angestellter, und dein Vater ist ein sehr mächtiger Mann.« Aber stimmte das wirklich? fragte er sich. Gab es da nicht Gesetze? Auch das Kind eines reichen Mannes hatte Rechte. Gab es nicht so etwas wie die elterliche Verpflichtung, die Nachkommen in dem Jahrhundert leben zu lassen, in dem sie geboren waren? Er konnte nicht richtig denken – das Geräusch des Baches war so penetrant, das Licht unter den Bäumen so eigenartig diffus, als ob ein übernatürlicher Bann ihn daran hindern wollte.
    Was soll ich denn machen? Kündigen und einen Prozeß anstrengen? Den Fall vor die UN-Menschenrechtskommission bringen? Hat Finney mich bei der Einstellung nicht genau vor sowas in der Art gewarnt? Ein jäher Gedanke wie ein eiskalter Wasserguß: Was ist eigentlich aus der Lehrerin vor mir geworden? Sie waren unzufrieden mit ihr, hieß es. Sehr unzufrieden.
    Der Druck von Avialle Jongleurs blassen Fingern hatte nicht nachgelassen. Als seine Augen ihren begegneten, sah er zum erstenmal die echte, tiefe Verzweiflung unter der mädchenhaften Koketterie.
    »Ich brauche dich, Paul. Ich habe sonst keinen Menschen – leibhaftig.«
    »Ava, ich…«
    »Ich liebe dich, Paul. Ich liebe dich, seit du zum erstenmal mein Haus betreten hast. Jetzt sind wir wirklich allein, und ich kann es dir sagen. Kannst du mich auch lieben?«
    »Du lieber Himmel!« Geschockt und ganz elend vor Kummer machte er sich von ihr los. Sie weinte, aber ihr Gesicht drückte außer Leid noch etwas anderes aus, das härter und schärfer war, heiß wie Zorn. »Ava, sei nicht albern! Ich kann … wir können das nicht machen. Du bist meine Schülerin. Du bist noch ein Kind!«
    Er wandte sich zum Gehen. Selbst in seiner inneren Aufgewühltheit achtete er darauf, vorsichtig über den Ring aus weißen, fleischigen Pilzen zu treten.
    »Ein Kind!« rief sie aus. »Ein Kind könnte dich nicht so begehren wie ich, mit solcher Leidenschaft.«
    Paul zögerte. Mitleid rang mit untergründiger Angst. »Du weißt nicht, was du sagst, Ava. Du hast im Leben kaum jemanden kennengelernt. Du hast nichts zu lesen bekommen als alte Bücher. Es ist verständlich … aber es darf einfach nicht sein.«
    »Geh nicht!« Ihre Stimme wurde schrill. »Du mußt hierbleiben!«
    Obwohl er sich wie ein Verräter vorkam, drehte er sich um und schritt davon.
    »Ich bin kein Kind!« schrie sie ihm aus dem magischen Kreis hinterher. »Wie kann ich

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