Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
»Ich glaube nicht, daß es mehr Licht geben wird als das.«
»Oh.« Renie guckte sich um. Das trübe Trauergrau des Himmels war eher dunkel als hell zu nennen. »Oh. Kommt das … häufig vor?«
»Daß es nicht Tag wird?« Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf. »Nie.«
Heiliger Bimbam, dachte Renie, heißt das, daß das System jetzt abspackt? Gehört das mit zu diesem Auslöschen, vor dem sich alle so fürchten? Wenn das Betriebssystem ein Mensch wäre, hätte Renie bei ihm zum allermindesten eine schwere Depression diagnostiziert. »Gibt das verdammte Ding jetzt etwa den Geist auf?« murmelte sie vor sich hin.
Und wenn? Verschwinden wir dann auch, wo wir ja quasi in ihm drinstecken? Es war schwer vorstellbar, daß sie und ihre Freunde in dieser Situation – eingesperrt im System, Verletzung und Tod genauso ausgesetzt wie im richtigen Leben – einen vollständigen Zusammenbruch des Netzwerks überleben würden.
Und Stephen, und die ganzen andern Kinder hier, gefangen, hilflos …
»Wir müssen los.« Renie rappelte sich auf. »Zum Brunnen, vermute ich. Ich hoffe, du weißt den Weg.«
Das Steinmädchen schaukelte leicht im Fersensitz und blickte auf den dichten Ring des Waldes. »Wir müssen eine Brücke finden«, sagte es gedrückt. »Dann können wir nach Holla Buschuschusch gehen. Oder vielleicht nach Thule. Da gibt’s einen König«, fügte es hinzu.
Renie war sich nicht sicher, ob sie diese verdrehte Version eines Märchenkönigs kennenlernen wollte. Wer konnte wissen, ob er nicht Allüren hatte wie die Königin in Alices Wunderland, die allen Leuten den Kopf abschlagen wollte. »Dann finden wir halt eine Brücke.« Sie stockte. »Heißt das, wir müssen erst den Fluß finden?«
Die Kleine schnaubte. »Na klar.«
»Sei nicht so streng mit mir.« Renie war froh, daß ihre Gefährtin eine normalere Reaktion zeigte. »Ich fange erst langsam an, hier durchzublicken.«
Aus den geheimnisvollen, funkelnden Elfenpfaden der Nacht waren gewundene Wege durch einen feuchten, dunklen Wald geworden – sehr viel weniger reizvoll, aber nicht weniger verwirrend. Selbst in dem trüben Zwielicht erkannte Renie, daß noch andere durch den Wald zogen, doch nur wenige erwiderten ihren Blick, und auf ein Gespräch stehenbleiben tat gar niemand. Viele hatten Wagen mit höchst zweifelhaften Zugtieren davor, Pferden, Ziegen und Ochsen, die wie dreidimensionale Attrappen nach dem Vorbild von Kinderzeichnungen aussahen. Renie erkannte ein paar Flüchtlinge aus den Büchern und Sendungen ihrer Kindheit wieder, etwa ein Trio von kleinen Schweinen und einen nervös dreinblickenden Wolf, die sich anscheinend für diese Fahrt zusammengetan hatten, aber die Mehrzahl konnte sie nicht identifizieren, zumal einige so bizarr waren, daß die Zwerge im Vergleich einen geradezu perfekten Körperbau gehabt hatten. Doch alle, die auf den düsteren Schleichwegen durch den Wald stapften oder huschten, hatten eines gemeinsam, den sorgenvollen Gesichtsausdruck – jedenfalls diejenigen, die Gesichter hatten. Einige weinten hemmungslos. Andere taumelten mit leerem Blick vor sich hin, als ständen sie unter Schock.
Das Steinmädchen hielt auf einer Lichtung an, um mit den Anführern einer größeren Schar zu reden, die vielleicht an die vierzig Flüchtlinge zählte. Während die Kleine mit einem Hirschen und einem winzigen, zwischen den Geweihstangen sitzenden Hummelmann Neuigkeiten austauschte, musterte Renie die Gesichter der von ihnen geführten Gruppe, ob sie vielleicht Stephen darunter erblickte.
Aber er wird nicht wie Stephen aussehen, sagte sie sich. Was bedeutet, daß er jeder von denen hier sein könnte – jeder von allen, die wir heute getroffen haben!
Dennoch trat sie heran, um die Figuren näher in Augenschein zu nehmen.
»Habt ihr vielleicht Leute gesehen, die ähnlich aussehen wie ich, mit ähnlicher Haut?« fragte sie. Mehrere Gesichter, von Tieren und Menschen gleichermaßen, wandten sich ihr mit stumpfen, niedergeschlagenen Mienen zu. »Einen kleinen Jungen, und außerdem einen Mann und ein Mädchen? Es müssen Neue sein, Leute, denen ihr zum erstenmal begegnet seid.«
»Der Wald ist voll von Fremden«, sagte eine Frau, die einen Igel in einer Kinderdecke auf dem Arm trug. Sie sprach, als wäre jedes Wort ein schwerer Stein, den sie heben mußte.
»Aber ich meine richtige Neue. Von draußen.« Sie versuchte sich darauf zu besinnen, wie die anderen es ausgedrückt hatten. »Von jenseits des Weißen Ozeans.«
Es kam
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