Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
dachte sie. Eher »immer schlimmerlicher«. »Heißt das«, fragte sie, »wenn wir keine Brücke finden, sitzen wir hier fest?«
Das Steinmädchen zuckte kläglich mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Wieso sollte der Wutschbaum uns sagen, wir sollen zum Brunnen gehen, wenn wir nicht hinkommen können?«
Weil der Wutschbaum, oder was dahinter steht, in den letzten Zügen liegt, antwortete Renie im stillen. Oder aufgegeben hat.
Es war Dread, begriff sie mit einemmal. Oben auf dem Berg hatte er etwas darüber bemerkt, dem Betriebssystem Schmerz zuzufügen. Es könnte eine Metapher gewesen sein, aber es war ziemlich offensichtlich, daß sie einen wahren Kern enthielt. Ob absichtlich oder nicht, Dread war dabei, die Kraft, die das Otherlandnetzwerk – und vor allem diesen Teil davon – zusammenhielt, langsam umzubringen. »Wir haben nichts davon, hier rumzusitzen. Komm! Laß uns weitersuchen!«
»Aber… aber meine ganze Familie …!« Das Steinmädchen sah flehend zu Renie auf. Zwei kleine Rinnsale liefen über seine erdigen Wangen. »Sie sind noch da hinten, und das Auslöschen …!«
Die Tränen besiegten Renies Ungeduld. Sie ging neben dem kleinen Kind aus Erde und Steinen auf die Knie und nahm es in die Arme. »Ich weiß, ich weiß«, gluckte sie begütigend. Was konnte sie schon sagen? Was hatte sie immer zu Stephen gesagt, wenn er sich gefürchtet hatte oder vor Enttäuschung untröstlich gewesen war? Bloß dasselbe, was alle Erwachsenen zu Kindern sagten: »Es wird schon wieder gut.«
»Nein, wird es nicht!« Das Steinmädchen schnaubte zornig. »Ich hätte nicht weggehen sollen! Lotta und Sumsemann und Himpelchen, die ganzen Kleinen, sie werden Angst haben. Was ist, wenn sie nicht mehr wegkönnen? Das Auslöschen wird kommen und sie kriegen!«
»Sch-sch.« Renie tätschelte der Kleinen den Rücken. »Die Stiefmutter wird’s schon richten. Dafür sind Stiefmütter doch da, nicht wahr? Es wird bestimmt wieder alles gut.« Sie verabscheute sich selbst dafür, Dinge zu versichern, von denen sie keine Ahnung hatte, aber sie sah wenig Nutzen für sie beide darin, einen langen Fußmarsch durch den Wald zurück ins Land der Riesenschuhe und -jacken zu unternehmen.
Renies Zureden schien ein wenig zu helfen. Das Steinmädchen stand auf, wenn auch immer noch laut schniefend. »Na gut. Dann suchen wir noch ein Weilchen nach der Brücke.«
»Braves Mädchen.«
Das Licht nahm jetzt definitiv ab, und sehr hell war es ohnehin nicht gewesen. Da sie nichts weniger wollte, als noch eine Nacht auf dieser Seite des Flusses zu verbringen, hielt Renie tapfer mit ihrer Führerin Schritt und setzte sich an manchen Stellen, wo das Steinmädchen nicht über das Schilf und das Ufergestrüpp hinausschauen konnte, sogar an die Spitze.
Gerade erklommen sie eine Erhebung zwischen zwei Flußbiegungen, vor der sie dem Mädchen wieder die Führung überlassen hatte, als dieses stehenblieb und einen Schrei ausstieß.
»Sieh mal! Eine Brücke!«
Renie setzte so hastig hinter ihr her, daß sie ausrutschte und sich mit den Händen abfangen mußte; immer noch damit beschäftigt, Matsch und nasses, eklig bleiches Gras von ihrer Decke abzuwischen, trat sie neben das kleine Mädchen. Vor ihnen lag eine weite Schleife des Flußtals. Eine große Menge hatte sich auf dieser Seite des Flusses am ersten Stein einer der ungewöhnlichsten Brücken versammelt, die Renie je gesehen hatte. Sie bestand zur Gänze aus rechteckigen, aufrecht stehenden Steinen, die ein wenig aussahen wie Stonehenge in eine Reihe gestellt. Sie waren nach Höhe gestaffelt und beschrieben so einen Bogen über den Fluß, aber anscheinend betrug der Abstand von einem zum anderen nie mehr als einen Meter. Renie sah, daß man durchaus hinüberkommen konnte, aber der Anblick, den die Säulenreihe bot, wie ein Mund voll ungleicher Zähne, ließ erst einmal ihren Mut sinken.
Es ist wie der Mund an der Außenfassade von Mister J’s, dachte sie. Diese ganze Welt ist wie ein Zerrspiegel auf dem Jahrmarkt. Auf seine Art gibt der Spiegel alles wieder, was man dem Andern aufgezwungen hat.
»Wieso geht niemand drüber?« fragte sie.
Das Steinmädchen zuckte mit den Achseln und trottete steif den Hügel hinunter.
Beim Näherkommen erkannte Renie am anderen Flußufer deutlich die Fortsetzung des Waldes, aber die Brücke war ab der Mitte in Nebel gehüllt, so daß nicht richtig auszumachen war, wo sie drüben ankam. Das erklärte jedoch nicht, warum die davor versammelten Phantasmen
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