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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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das mal sagen darf, bist mit Sicherheit weit über die Schlafengehenszeit hinaus.«
    Jetzt zog ihre kleine Führerin doch noch ein empörtes Gesicht. »Im Wald schlafen? Das ist eine doofe Idee.«
    »Okay, okay«, beschwichtigte Renie sie. »Du bist der Boß. Aber wie weit müssen wir gehen, ehe wir schlafen können?«
    »Bis wir eine Brücke finden natürlich.«
    Gebührend gemaßregelt gab Renie Ruhe.
    Unter dem riesengroßen Scheibenmond, der keinerlei Anstalten machte, sich auf einen Horizont zuzubewegen, gingen sie immer tiefer in den Wald hinein – was Renie daran merkte, daß die Bäume um sie herum zusehends höher wurden. Den schwarzen See und seinen vernunftbegabten Baum hatten sie schon lange hinter sich gelassen, aber Renie fühlte sich trotzdem irgendwie beobachtet, obwohl sie nicht recht sagen konnte, ob von den kleinen, heimlichen Augen unsichtbarer Waldbewohner oder von einem größeren, eher gottähnlichen Wesen. Auf den Lichtungen mit ihren domhohen Astwerkgewölben, die von Elfenlichtern funkelten wie ein Himmel voll heller Sterne, war das Beschattungsgefühl besonders stark. Die skurrile Bilderbuchschönheit der Szenerie konnte nicht den gruseligen Eindruck aufheben, durch feindliches Territorium zu marschieren.
    Wieso sollte ich mich auch nicht gruseln? sagte sie sich. Wenn ich richtig sehe, bin ich gar nicht mehr im Netzwerk, sondern im Innern des Betriebssystems selbst, direkt im Bauch der Bestie.
    Als sie, angeweht von einer frischen Waldbrise, ihre schützende Decke fester um sich zog, fühlte Renie plötzlich die eckige Form des Feuerzeugs, das sie unter dem Oberteil an der Brust trug.
    »Oh, nein! Ich hatte ja Martine angerufen …« In der nicht abreißenden Kette seltsamer Begebenheiten seitdem hatte sie ihren Notruf am Hang, als die Schnöre von allen Seiten auf sie zugekommen waren, völlig vergessen. »Sie muß denken …«
    Mit verwundert hochgezogenen Augenbrauenklumpen blieb das Steinmädchen stehen und sah zu, wie Renie das kleine, glänzende Ding aus ihren Sachen hervorzog und hineinsprach. »Martine, kannst du mich hören? Martine, hier ist Renie, kannst du mich hören?«
    Es kam keine Antwort. Renie schüttelte das Feuerzeug, als wäre es eine stehengebliebene Uhr, obwohl ihr im selben Moment aufging, wie dämlich RL-mäßig das war. Aber so oder so blieb das Feuerzeug stumm wie ein Stein.
    Sie gingen weiter, und Renie setzte den Schreck, den sie Martine und etwaigen anderen in ihrer Gesellschaft eingejagt haben mußte, auf die Liste ihrer Sünden.
    Die Liste wird allmählich lang, dachte sie. Ich hab meinen Bruder nicht gefunden, hab nichts Nennenswertes getan, um die Pläne der Bruderschaft zu vereiteln, hab !Xabbu und Sam im Stich gelassen und hab auch noch meine andern Freunde angerufen und bei ihnen den Eindruck erweckt, daß ich gleich umgebracht werde.
    Ja, aber du warst wirklich knapp davor, umgebracht zu werden, rief sie sich ins Gedächtnis. Reg dich ab, Frau.
    Auf ihrem Weg unter glitzernden Bäumen und durch waldige Täler mit Teppichen aus dunklem Gras, das ohne Windeinwirkung flatterte, und mit Ringen bleicher, matt schimmernder Pilze dazwischen nahm Renie nach und nach noch andere Zeichen von Leben im Wald wahr. Sie hörte es im Laubwerk rascheln, und ein- oder zweimal meinte sie, Schatten zu sehen, die gerade um die nächste Biegung eines der langen, offenen Gänge vor ihnen verschwanden. Sie erwähnte es gegenüber dem Steinmädchen, und dieses nickte wissend.
    »Andere, die zum Brunnen unterwegs sind«, sagte es. »Das Auslöschen kommt schnell, vermute ich.«
    »Es sind also keine … Schnöre? Oder Tecks?«
    Das kleine Mädchen lächelte verkniffen. »Das würden wir merken.«
    Der große Mond hatte sich immer noch nicht merklich von einer Seite des Himmels zur anderen bewegt, aber Renie war gerade zu dem Schluß gekommen, daß er vielleicht ein bißchen tiefer gerutscht war, als die beiden vor sich auf einem kleinen Erdhügel ein Lagerfeuer zwischen den Bäumen sahen. Das Steinmädchen zögerte kurz und beäugte den flackernden Schein, dann machte es Renie mit seinem stummeligen Finger ein Zeichen, daß sie still sein sollte, und ging voraus. Merkwürdige Gestalten drängten sich um die Flammen. Das Steinmädchen verlangsamte seinen Schritt wieder, beugte sich spähend vor und richtete sich dann auf.
    »Es sind bloß Zwerge«, sagte es erleichtert und nahm Renie an der Hand.
    Ein Wache stehender Schatten am Rand des Erdhügels hob einen Stock und sagte mit

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