Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
aus irgendwelchen Kinderwelten, knapp hundert an der Zahl, schweigend und sehnsüchtig hinüberblickten, aber niemand die Brücke betrat.
»Ist sie … kaputt oder so?«
Als sie den Rand der mutlosen Menge erreichten, erkundigte sich das Steinmädchen bei einer Frau in einer kunterbunten mittelalterlichen Phantasietracht nach der Ursache. Die Frau musterte die beiden, besonders Renie, von Kopf bis Fuß, bevor sie antwortete.
»Es ist wegen der Tecks, Herzchen. Da gibt’s ganz viele Tecks.«
»Tecks?« Das Steinmädchen riß ängstlich die Augen auf. »Wo?«
»Auf der andern Seite«, erwiderte die Frau mit einer gewissen bitteren Befriedigung. »Es sind schon welche rüber – wegen diesem Auslöschen, ihr wißt schon. Meinten, so’n paar Tecks wärn nur halb so wild. Aber es sind nicht bloß ein paar, nicht? Ein oder zwei von denen sind wiedergekommen und ham von erzählt, aber die andern hamse gefressen.«
Als ob seinem erdigen Körper plötzlich der Lebensstrom abgedreht worden wäre, sackte das Steinmädchen auf die Knie. »Tecks«, ächzte es. »Die sind so schlimm!«
Renie überlief es eiskalt. »Und du meinst wirklich, sie sind schlimmer als die Schnöre?«
»Sie sind schlimm«, wiederholte das Steinmädchen nur.
»Und es heißt, die Tecks hätten da drüben ’n paar Neue eingebunkert«, fuhr die Frau in der bunten Tracht fort. »So Fremde – von wo ganz anders her.«
»Was?« Renie konnte kaum den Impuls bezähmen, die Frau an ihrem Mieder zu packen und zu sich heranzuziehen. »Was für Fremde?«
»Weiß ich wirklich nicht, Herzchen«, antwortete die Frau und bedachte Renie dabei mit einem Blick, der deutlich sagte, daß sie selbst gerade als Fremde eingeordnet worden war. »Hab’s von ’nem Kaninchen gehört, nicht, und die ham’s immer furchtbar eilig. Oder war’s eins von den Eichhörnchen …?«
»Auf der andern Seite, sagst du?« Renie wandte sich dem Steinmädchen zu. »Das könnten meine Freunde sein. Ich muß rüber und ihnen helfen.«
Das kleine Mädchen sah starr vor Entsetzen aus großen, dunklen Lochaugen zu ihr auf.
»Okay, bleib hier. Mach’s gut und vielen Dank.« Unter Einsatz der Ellbogen drängelte Renie sich durch die am Ufer versammelten Scharen, die aussahen, als ob sie für ein surrealistisches Gemälde Modell ständen. Die meisten schienen im Bann derselben Angst zu sein, die dem Steinmädchen in die Glieder gefahren war. Nur wenige murrten, als Renie sich an ihnen vorbeizwängte.
Der erste Stein der Brücke ragte fast so hoch über das flache Wasser hinaus, wie Renie groß war. Sie fand eine Stelle, wo sie sich festhalten konnte, und zog sich mit einiger Mühe hoch. Sie war müde nach dem langen Tagesmarsch, und als sie sich schließlich bäuchlings auf die rauhe Oberseite des Steins geschoben hatte, mußte sie erst einmal ein Weilchen verschnaufen. In ihrer schutzlosen Lage kam ihr unwillkürlich die Erinnerung, wie sehr die Brücke einer Reihe malmender Zähne geglichen hatte.
»Hilf mir hoch«, sagte jemand.
Renie blickte über den Rand in das dunkle Gesicht des Steinmädchens.
»Was hast du vor?«
»Ich will nicht hierbleiben. Du bist meine Freundin. Und außerdem hast du von nichts eine Ahnung.«
Der Gedanke, !Xabbu und die anderen könnten in Gefahr sein, bedrängte sie, und so besann sie sich nicht lange. Mit einem hatte das Mädchen recht – es kannte sich sehr viel besser aus als Renie. Und da das System allem Anschein nach dabei war, die Simwelt ringsherum aufzulösen, war nicht gesagt, daß es für das Kind sicherer war, wenn es hier wartete, wenigstens nicht auf längere Sicht.
Dämliche Ausrede, Sulaweyo. Aber was blieb ihr übrig?
»Nimm meine Hand«, sagte sie.
Als das kleine Mädchen oben war, bedeutete es Renie mit einer Geste, still zu sein.
»Ele mele mink mank
Pink pank«,
rezitierte das Steinmädchen feierlich,
»Use buse ackadeia
Rille ralle rüber.«
»Das muß man immer sagen, bevor man rübergeht«, erklärte es Renie. Die Furcht machte seine Stimme schrill. »Weißt du das nicht? Das ist ganz wichtig.«
Sie kletterten zügig von einem Zahn zum anderen, bis die warnenden Rufe der Zurückgebliebenen sie nicht mehr erreichten. In der Flußmitte strömte das schwarze Wasser schneller und schleuderte zwischen den dicht stehenden Pfeilern scharfe und kalte Spritzer bis zu ihnen hinauf. Der Nebel, den Renie vom Ufer aus gesehen hatte, umgab sie jetzt ganz, nahm ihnen die Sicht und machte die Steine schlüpfrig. Sie
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